: „Beim Akt ist die private Tanja ganz weg“
HAUSBESUCH Sie ist Deutschlands einziges professionelles Aktmodell. Ein Traumberuf – mit Grenzen
VON STEFANIE SCHMIDT (TEXT) UND JÖRG KOOPMANN (FOTOS)
Gerade und ungerade Hausnummern werden in München nach Straßenseiten sortiert. Tanja Wilking (44) wohnt in einem Haus mit ungerader Nummer. Ein Hausbesuch im Stadtteil Neuhausen.
Draußen: Die ruhige Renatastraße. Ein Drache hängt in den Ästen eines Baumes. Die Schutzformel 20 C+M+B 15 sichert das Haus.
Drin: Holzfußboden, wohlige Wärme. Die Wohnung ist hell und offen, das Schlafzimmer bei diesem Besuch tabu. In der Küche ein Erker mit drei Fenstern. Über dem Sofa im Wohnzimmer: eine Weltkarte mit farbigen Fähnchen und Punkten („Die roten Fähnchen sind Orte, wo ich mit meinem Mann war, dann sind uns die roten ausgegangen“). Die Punkte stehen noch auf der Wunschliste. Im Regal: Bücher, Baudelaire, Zarathustra, ein Band „Satanische Verhandlungskunst“ („Aktmodell und Philosophie, ein Klischee, ich weiß“). Über dem Schreibtisch: Frauenakte in Aquarell. Ein Stillleben aus Körpern. Überall verteilt: Masken aus aller Welt.
Tanja Wilking: Geboren in Nienburg an der Weser, aufgewachsen in Sulingen. Sie ist Einzelkind, doch nur bis 1988. Dann ging sie für zwei Jahre in die USA und lernte ihre „Zweitfamilie“ kennen – vier Kinder, mit ihr fünf („Ich war Trauzeugin bei meiner Gastschwester“). Zur Hochzeit mit ihrem Mann Jochen kam die Familie nach Deutschland. Derzeit macht sie ihren Abschluss in Philosophie („An der Fernuni Hagen. Ich arbeite Vollzeit, da geht keine Präsenzuni“).
Was macht sie? Aktstehen. Sie posiert für Studenten, Künstler, Kunstbegeisterte (sieht sich am liebsten auf braunem Packpapier in hellen Pastellfarben). Für ihren Traumjob brach sie das Jurastudium ab – nach dem ersten Staatsexamen. Zum Akt kam sie „wie die Jungfrau zum Kind“. Sie studierte in Passau, als die Kunstpädagogen in der Theater-AG fragten, welcher der Akteure Interesse am Posieren hätte. Heute ist sie Deutschlands einziges hauptberufliches Aktmodell. Als Kohleskizze, Radierung, Aquarell und 3-D-Skulptur hängt und steht sie in Wohnzimmern und Galerien in ganz München. Ob sie sich als Kunstobjekt sieht? Sie freut sich über das, was man aus ihr macht. „Einmal hab ich eine vergessene Skulptur von mir mitgenommen. Ich wickelte sie in ein Tuch und schleppte sie nach Hause. Das hat sich angefühlt wie bei einem Kunstraub.“
Das Objekt: Sie sieht sich als „Vorlage für die Interpretation dessen, was jemand umsetzen will.“ Ihr Künstlername: „Rodinmuse“. Welchen Anspruch hat sie an sich? „Ich tue das nicht aus Eigennutz. Ich fühle mich gut, wenn andere Freude an der Kunst entwickeln.“ Schönheit liegt für sie im Auge des Betrachters. „Wenn jemand will, darf er mich auch mit Bart zeichnen.“ Nur mit offenen Haaren bekommt man Tanja nicht. „Das ist zu privat“, sagt sie. „Haare haben etwas Erotisches, vor allem blonde.“
Die Liebe zum Akt: „Wenn ich posiere, denke ich an nichts.“ Es sei wie meditieren, ohne es zu wissen. Ihr Yogaersatz („Aktstehen bringt mich in meine Mitte“). Das Nacktsein steht hierbei nicht im Vordergrund, sagt sie. Ungern sieht sie den Job nur darauf reduziert: „Das Voyeuristische hat beim Aktzeichnen nichts zu suchen.“ Der geschlossene Raum und eine eingeschworene, professionell arbeitende Gruppe geben ihr die nötige Sicherheit – nur Fenster seien ein Problem („Der neugierige Blick von Fremden war mir anfangs unangenehm“). Es dauerte ein bisschen, aber jetzt weiß sie, die Penetration zu spiegeln: „Mittlerweile winke ich dem Beobachter zu. Ich stell mir das entblößend vor, von einer Nackten zugewunken zu bekommen.“ Hat unser Hausbesuch auch etwas Voyeuristisches? Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht – unser Fotograf macht derweil ein Foto von ihr.
An Grenzen gehen: Für die Ausstellung „TOD“ der Gesellschaft für christliche Kunst hing sie nackt kopfüber an einem Flaschenzug. In der Videoinstallation sollte ihr Mantel am Körper hinabgleiten. „Es dauerte Stunden, bis wir es auf Film hatten, mir stieg das Blut in den Kopf.“ Im Modellierkurs steht sie schon mal zehn Stunden unbeweglich auf dem Podest („Da sackt dir das Blut in die Beine“).
Grenzen testen: Sie ist kein Mensch, der gerne reizt. In der Bar trägt sie das Dekolleté hochgeschlossen. „Ein Mini ohne Strumpfhose grenzt fast an Nacktsein in der Öffentlichkeit“ – privat ein No-Go. Allerdings genießt sie den Rollenwechsel, den der Beruf ihr ermöglicht. Sie ist Teil der Künstlerinitiative „nude in public“, die sich an öffentlichen Bereichen in München nackt zeigt. „Ich provoziere nicht gerne, aber es macht einen riesigen Spaß, das Gesicht eines Busfahrers zu sehen, während man nackt mit ausgestreckten Armen vor dem Friedensengel posiert“, sagt sie. Was ihr Mann dazu sagt? „Der kennt das nicht anders. Wir lernten uns kennen und ich sagte, ich bin Aktmodell.“ Er ist nicht da, um selbst zu antworten.
Grenzen dehnen: „Ich wage mich gerade in neue Bereiche.“ Sie holt ein Magazin, in der Mitte drei lose Fotos. Darauf zu sehen: Sie in rotem Seil (Bondage), auf dem Rücken ein Turtle-shell-Muster (japanisch kikkou). Nach über zwanzig Jahren im Geschäft will sie neue Plattformen besteigen. Fotokünstler waren ihr bislang zu experimentell („Die wollen alle nur ausprobieren“), aber am Rollentausch findet sie Gefallen. Für das Aktfoto im Bondage-Style dürfen die Haare auch offen bleiben („Fürs Foto starrt mich keiner 20 Minuten mit offenen Haaren an“).
Liebe: Fand sie im Kino. Jochen war Vorführer („Er wollte aber immer schon lieber in die Wirtschaft, deshalb hat er eine Umschulung zum Industriekaufmann gemacht“), sie im richtigen Film. Jochen ist zwei Meter groß, spielt Klavier und boxt („Er wäre gern Barista“). Deshalb haben sie sich vor kurzem eine Espressomaschine zugelegt.
Wann ist sie glücklich? „Glück ist wie Liebe so ein abstraktes Wort“, sagt sie. „Ich ärgere mich immer, wenn Leute Worthülsen in den Raum werfen, damit ich mit Floskeln antworte.“ Glück und Liebe seien temporär. Der Augenblick, in dem sie glücklich ist: „Wenn ich mit meinem Mann Fähnchen für die Weltkarte sammle.“
Was hält sie von Merkel? „Sie steht ihre Frau.“ Was sie wegen der Ukraine und Russland unternommen habe, sei mutig. „Sie hat mich beeindruckt.“
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