Bonjour, Israel

SIEDLER Frankreichs Juden wandern aus, erst recht seit den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“. In einem israelischen Küstenort wachsen deshalb die Einwohner- zahlen – und die Hochhäuser

■ Auswanderung: Von 101.000 deutschen Juden sind im vergangenen Jahr 103 nach Israel ausgewandert. In Großbritannien waren es 627 von 260.000. Die größte Gruppe jüdischer Auswanderer kam aus der französischen Diaspora: Von 478.000 gingen 7.231. Von 2012 bis 2014 hat sich die Zahl westeuropäischer Juden, die die israelische Einwanderungsbehörde registriert, auf 8.900 vervierfacht. 2014 kamen alles in allem 26.500 Migranten. Die Zahl der Ukrainer verdreifachte sich.

■ Einwanderung: In der israelischen Presse wurde diskutiert, ob jene, die nach Terroranschlägen die Masseneinwanderung förderten, nicht den Job der Nazis vollendeten, Europa „judenrein“ zu machen. Kommentatoren warnten: „Jerusalem ist nicht sicherer als Paris.“ Viele machen die Neuen für steigende Immobilienpreise verantwortlich, eines der Hauptthemen bei den jüngsten Parlamentswahlen. Das Einwanderungsministerium erwartet 2015 wieder einen Rekord: 30.000 Migranten.

AUS NETANJA SUSANNE KNAUL (TEXT UND FOTOS)

Ashley Hadad wird auf dem Unabhängigkeitsplatz auf harte Konkurrenz treffen. Ihr Restaurant muss sich gegen das Gelato Italiano, den English Pub und das Café The Scotsman durchsetzen. Wenige Meter von der Strandpromenade Netanjas entfernt, passen fünf Bauarbeiter im Or HaKikar die letzten Fliesen in die Küchenwand ein. Das „Licht am Platz“, so nennt Hadad das Restaurant, in dem sie tunesische Küche servieren will. „Wir können in einer Woche fertig sein“, versichert einer der Arbeiter. Seine schwarze Jeans und die Turnschuhe sind voller Farbspritzer und Putz. Aber die junge Frau mit den dunklen, langen Locken schüttelt den Kopf. „So schnell wird das nichts“, sagt sie. Ihr Akzent ist so breit, dass ihr Hebräisch eher wie Französisch klingt. Vorne, wo die Bar hin soll, sind Wände und Boden noch kahl.

Kein halbes Jahr ist Ashley Hadad, 24 Jahre alt, in Israel. Trotzdem kennt sie sich schon so aus, dass sie weiß, wer ihre Kunden sein werden: vor allem frühere Landsleute.

Hadad ist eine von mehr als 7.000 Juden aus Frankreich, die 2014 nach Israel eingewandert sind. Knapp ein Drittel lebt heute in Netanja. „Riviera Israels“, so nennt man den Küstenstreifen im Norden Tel Avivs deshalb.

Im vergangenen Jahr und im Jahr zuvor hat sich die Zahl der französischen Migranten laut israelischer Einwanderungsbehörde, der Jewish Agency, verdoppelt. Franzosen machen schon länger die größte Gruppe der Einwanderer aus, vor den Juden aus der Ukraine. Viele lassen sich dort nieder, wo man ihre Sprache spricht. In Netanja wachsen überall Neubauten mit fünf bis zehn Stockwerken aus dem Küstensockel. 200.000 Menschen leben in der gepflegten Kleinstadt am Mittelmeer. In den nächsten 15 Jahren, rechnet die Stadtverwaltung, sollen es 350.000 werden.

Ashley Hadad sagt, sie habe gewusst, dass sie nach Israel kommen würde, seitdem sie 18 ist. Seit der Sache an der Tankstelle. Sie war mit ihrem Freund auf dem Motorrad unterwegs, als ein Araber mit dem Auto auf sie zu hielt. Ashley Hadad ist sich sicher: weil sie Juden waren. Er traf nur das Motorrad. Sie empfand den Angriff als Warnung: „Was passiert erst, wenn es Probleme gibt in Frankreich oder in Israel, habe ich gedacht.“ Hadad zieht ihre Strickjacke enger um den Körper, als würde es sie frösteln.

Sie hatte viele Muslime in ihrem Freundeskreis. Lange hatte keiner danach gefragt, wer Jude oder Muslim ist. Die Freunde wollten nicht, dass sie weggeht. Aber ihre Verwandten wurden immer wieder angegriffen. Ein Cousin und ein Onkel sind mitten auf der Straße geschlagen worden. Als die Anschläge auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ihr Land erschütterten, beteuerten viele, nun Charlie zu sein. Dem Slogan #JesuisJuif, Ich bin Jude, schlossen sich deutlich weniger an.

„Die Franzosen sind bescheuert“, schimpft Hadad. „Sie stehen immer auf der Seite der Starken.“ Manchmal hat sie noch das Ungestüme einer Teenagerin.

Ashley Hadad sah zu, wie ein Verwandter nach dem anderen das Land verließ. Sie diskutierte viel mit ihren zwei Geschwistern, mit Vater und Mutter, ob sie auch auswandern sollen. Nur die Eltern wollen Frankreich in ihrem Alter nicht mehr verlassen. Ein Bruder plant, ihr im nächsten Jahr zu folgen.

Der Exodus der französischen Juden ist so groß, dass Premier Manuel Valls neulich sagte: Wenn 100.000 Migranten aus Spanien Frankreich verlassen, sei das zu verschmerzen. „Aber wenn 100.000 Juden gingen, wäre Frankreich nicht mehr Frankreich. Die französische Republik wäre gescheitert.“ Der Kampf für die Juden sei ein Gründungsprinzip des Staats, erinnerte Valls. Schon zu Beginn der Revolution von 1789 wurden sie als vollwertige Bürger anerkannt.

Die Juden in Frankreich tun ihr leid, sagt die Wirtin

Für den Ministerpräsidenten sitzen die Schuldigen in den Banlieues, dort, wo islamistische Demagogen hetzten. Was mit Juden beginne, mahnte Valls, ende nicht mit Juden. Nur scheinen das in Frankreich nicht alle so zu sehen wie er.

In Israel wiederum ruft der gerade im Amt bestätigte Premier Benjamin Netanjahu Europas Juden beständig dazu auf, auszuwandern. Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo und der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt hat die israelische Regierung die Budgets für Hebräischkurse und Informationsveranstaltungen der Jewish Agency im Ausland aufgestockt.

Von der Alija ist im Hebräischen die Rede, vom Aufstieg nach Israel. Ashley Hadad und ihr Freund haben sich verlobt, als sie sich entscheiden, den Schritt zu machen. Sie wollen nicht einmal das Geld für den Umzug zurück, obwohl die Jewish Agency das tragen würde. Die Heiratspapiere besorgen sie erst in Israel. Drei Wochen nach ihrer Alija ist die Trauung.

„Mir tun die Juden leid, die noch in Frankreich leben“, sagt Hadad. Sie sitzt auf einem Plastikstuhl neben ihrem Restaurant. Beim Erzählen blickt sie immer wieder rüber zu den Bauarbeitern. Mitten im Satz springt sie auf, um sich einzumischen, als ihre Tante und der Bauleiter einen Katalog für Dunstabzugshauben aufschlagen. Ihre Tante soll in Hadads Restaurant kochen. So wie sie es schon in Frankreich im Lokal von Hadads Eltern getan hat.

Alles wird koscher sein, auch wenn tunesische Spezialitäten auf der Speisekarte stehen: Couscous, gegrilltes Fleisch, gefüllte Teigtaschen und Frittiertes. „Es ist schon absurd“, sagt Ashley Hadad, „dass ich in Israel ein Restaurant mit nordafrikanischen Spezialitäten aufmache.“ Schließlich seien es die Nordafrikaner in Frankreich, die sie dazu brachten, zu gehen.

Der Unternehmer will zum echten Israeli werden

Ashley Hadads Selbstvertrauen ist riesig. Sie preist die Kochkünste ihrer Tante. Sie sagt: „Ich weiß, was die französischen Juden gern essen.“ Was sie vermisst? Ihre Freunde, ein Auto und die französische Schokolade. „Die Süßigkeiten hier schmecken wie Seife.“

In Netanja geben um den Unabhängigkeitsplatz herum die Franzosen den Ton an. Man wünscht sich „Bon appétit“ und trinkt schon mittags einen Rosé oder ein Glas Weißwein. An manchen Tischen sitzen drei Generationen zusammen, Männer mit einer schwarzen Kippa, der Kopfbedeckung orthodoxer Juden, ein Mann, der nur eine Mütze trägt, ein dritter hat gar nichts auf. Die Koexistenz zwischen Frommen und Weltlichen scheint unter den französischen Einwanderern friedlicher zu sein als unter Israelis. Ein Schild, „Fermé le samedi“, weist die Kundschaft darauf hin, dass das Bistro am Schabbat geschlossen ist. Und man stellt sich auf die französischen Bedürfnisse ein. Jedes zweite oder dritte Geschäft rings um den Platz ist von einem „Immobilier“ belegt, der den Neuankömmlingen bei der Wohnungssuche hilft.

In einem der neuen Wohnblöcke kann Harnof Haddock vom zweiten Stock aus das Meer sehen. Der Importeur ist vor gut einem halben Jahr mit seiner Familie nach Israel gekommen. Er wollte unbedingt an den Strand. „In Paris haben wir kein Meer“, sagt Haddock, der eine Kippa trägt. Umgerechnet zahlt er 1.500 Euro an Miete für 140 Quadratmeter in Wassernähe. „Wenn ich jetzt schon mal hier bin“, sagt er. Seine Arbeit kann er in Netanja genauso gut machen wie in Paris, er wickelt den Kundenservice übers Internet ab. Sobald seine Hebräischkenntnisse ausreichen, will er den Handel mit Alarmanlagen, Kameras und Überwachungssystemen, die er bislang nach Frankreich importiert, auch auf Israel erweitern.

Dreimal in der Woche kommen Harnof Haddock und Ashley Hadad in die Sprachschule für Migranten und lernen, von rechts nach links zu lesen. Hadad hat gerade die zweite Klasse absolviert, Haddock ist schon in der fünften und letzten. Fünf Stunden dauert der Unterricht an den Vormittagen. Gut ein Dutzend Einwanderer sitzen dann in einer Klasse vor ihren Heften und bekommen komplizierte Verbformen erklärt. Der älteste Schüler in Haddocks Klasse ist über 80. „Er liest viel besser als ich, aber redet praktisch kein Wort“, sagt er.

Grundkenntnisse hat der Unternehmer aus der jüdischen Schule in Frankreich, außerdem übt er mit Neffen und Nichten, den Kindern seines ältesten Bruders. „Die sind wie ein Wörterbuch auf Beinen“, sagt er.

Haddock will zu einem richtigen Israeli werden, wie zwei seiner Brüder, die schon länger hier leben. Er sucht den Kontakt zu den Israelis. Doch viele Franzosen blieben am liebsten unter sich, meint er. Wie seine Frau Liora, die verbringe die meiste Zeit mit anderen Müttern aus Frankreich. Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Familie schon vor Jahren das Land verlassen, allein wegen der Perspektiven für die Kinder, die sich, je jünger sie sind, leichter eingliedern ließen. Liora zögerte.

Und auch wenn die Kinder jeden Tag bis um vier in der Krippe und im Kindergarten sind, will seine Frau, die gelernte Buchhalterin ist, nicht wieder arbeiten.

In Israel gilt es als Luxus, wenn nur einer der Ehepartner zur Arbeit geht. Haddock schüttelt den Kopf. „Wir können machen, was wir wollen: In Frankreich sind wir die reichen Juden, hier die reichen Franzosen.“ Man müsse nur seine Familie ansehen, um zu wissen, dass das ein Vorurteil sei. „Wir sind sieben Brüder, einer ist erfolgreicher, der andere weniger.“ Ihm selbst geht es finanziell nicht schlecht. Er will bald Flugstunden in einem Leichtflugzeug nehmen, um übers Meer zu fliegen, nicht gerade ein billiger Sport.

„Die kommen hierher und werfen mit ihren Euros um sich“, schimpft ein junger Mann, der aus Russland stammt und gegenüber des Or HaKikar mit dem Wachmann eines Hotels eine Zigarette raucht. „Dadurch steigen die Preise, und die Wohnungen werden teurer.“ Sein Unmut richtet nicht nur gegen die Migranten aus Frankreich, sondern gegen alle, die eine Wohnung kaufen, aber nicht bleiben wollen. In Jerusalem stehen zahlreiche Ferienwohnungen das Jahr über leer. Gerade dort, wo Wohnraum knapp ist, treiben die, die es sich leisten können, die Immobilienpreise unnötig in die Höhe.

Seit dem Anschlag auf die jüdische Schule in Toulouse, bei dem ein algerischstämmiger Franzose im März 2012 einen Lehrer und drei Schüler erschoss, denken viele stärker darüber nach, überzusiedeln. Haddocks Mutter hält sich das zumindest theoretisch offen, sie hat seit Jahren ein Apartment in Netanja, ist oft zu Besuch, aber obwohl die halbe Familie hier lebt, spricht sie kein Hebräisch.

Am Tag, an dem Haddock und seine Frau beschlossen hatten, zu gehen, hatte es in dem Pariser Vorort Sarcelles heftige Demonstrationen gegeben, die weltweit Schlagzeilen machten. Es war im vergangenen Sommer, als Israel und die Hamas im Gazastreifen Krieg führten. Die Polizei riet jüdischen Ladenbesitzern, ihre Geschäfte zu schließen. Nahe einer Synagoge skandierten Demonstranten „Tod den Juden“. Abends schloss meist seine Frau die Wohnungstür ab. Diesmal tat Haddock es selbst. Weniger als drei Wochen später waren sie in Israel. „Viele haben keine Arbeit, und dann sehen sie, wie erfolgreich viele Juden sind, da kommt Neid auf“, denkt er. Er sieht auch in der wirtschaftlichen Lage eine Ursache für den neuen Antisemitismus in Frankreich.

„Wenn du hier etwas durchsetzen willst, musst du laut werden, sonst kommst du nicht weit.“ Das ist eine der ersten Erfahrungen, die Haddock in Israel gemacht hat. Den höflichen Umgang der Franzosen vermisst er nicht. Wenn ihm was fehlt, dann das Kino. In Paris hat er jede Woche einen neuen Film gesehen. Auch freitags am Schabbat, das habe er sich vom religiösen Gesetz nicht verbieten lassen, sagt der Mann mit der Kippa. Er nennt sich fromm, aber „nicht so fromm, wie die Frommen in Israel“.

70 Prozent der jungen Franzosen wollen bleiben

Quer über den Unabhängigkeitsplatz flattern bunte Fähnchen im Wind. An zwei breiten Springbrunnen spielen Kinder. Ashley Hadad und ihre Tante diskutieren, welche Gläser sie für Wasser und für Wein kaufen sollen. Sie sind vor der Gewalt in Paris geflohen – in ein Land, in dem Bomben explodieren und Raketen fliegen. „Natürlich habe ich Angst vor Kriegen“, sagt Hadad, aber „jetzt, wo ich hier bin, wird Gott mich schützen“.

Die Verbindung nach Israel gehört in vielen jüdischen Familien im Ausland zur Kultur. Die Auswanderung wurde in den französischen Gemeinden bisher vor allem als Erfolg gesehen, wie sehr jüdische Tradition bewahrt werden, heißt es bei der Jewish Agency. Viele Familien schicken ihre Söhne zum Religionsstudium an ein israelische Jeschiva. Die Jewish Agency lädt außerdem die jüdischen Abiturienten aus Frankreich mit dem Programm „Bac Bleu Blanc“ für eine Woche nach Israel. Bac Bleu Blanc heißt „Abitur blau-weiß“, Abitur in den Nationalfarben Israels also. 70 Prozent der jungen Juden wollen anschließend bleiben. Bei dem Programm „Taglit“ für junge Amerikaner sind es nur 20 Prozent, die nach ihrem Besuch erwägen, überzusiedeln.

Wenn ein kompletter Flug mit Migranten startet, gibt es einen offiziellen Abschied von der jüdischen Gemeinde im Heimatland. Für den Empfang in Israel sorgt dann für gewöhnlich das Integrationsministerium. Auf dem Ben-Gurion-Flughafen wird auf dem Landeplatz blau-weiß geflaggt, der Minister hält eine Rede und ein Männerchor singt „Heweinu Schalom Aleichem“. Aus Rücksicht auf die Gefühle sehr frommer Einwanderer, die keine Frau singen hören dürfen.

Die erste Nacht verbringen die israelischen Neubürger meist in Jerusalem, damit sie sich am nächsten Morgen über Jobs informieren können. Anschließend geht es per Taxi in die privaten Wohnungen. „Die meisten Einwanderer aus Frankreich“, sagt ein Sprecher der Jewish Agency, „wissen schon, bevor sie landen, wo sie wohnen werden.“

Alice Castiel ist fast jeden Tag an der Pariser Dependance der Agency vorbeigelaufen. Sie lag in ihrer Straße. Der Entschluss, nach Israel zu gehen, fiel der pensionierten Juristin nicht leicht. Sie kleidet sich elegant, schminkt sich dezent und trägt ihr Haar silbergrau. Trotz ihrer 72 Jahre zieht die zartgliedrige Frau die Blicke auf sich. Sie wirkt etwas fehlplatziert, verletzlich. Als habe man sie aus einem Film von Claude Chabrol herausgeschnitten und aus Versehen in der Herzlstraße von Netanja eingesetzt. Castiel geht dort gern ins Café Pain aux chocolat. „Ganz so wie in Frankreich schmeckt das Croissant hier nicht“, sagt sie. Sie spricht leise, langsam und bedacht.

Hier passe die Armee auf, findet die Pensionärin

Vor ein paar Wochen sei sie erst kurz nach Mitternacht aus einer Veranstaltung gekommen und habe kein Taxi gefunden, erzählt Castiel. Es regnete auch noch. „Ich bin mitten in der Nacht allein nach Hause gegangen, ganz ohne Angst.“ In Paris gehe das nicht. Da sie in Israel immer unter Juden sei, fühle sie sich sicherer. „Und weil hier die Armee aufpasst.“ In Frankreich sehe man die Polizei kaum.

Vor 50 Jahren unternahm sie den ersten Anlauf. Sie verbrachte ein Jahr bei ihrer Schwester im Kibbuz. Des Berufs, der Freunde wegen blieb sie doch in Frankreich. „Ich vermisse meine Freundinnen“, sagt sie. Wenn sie einen Laden betrete, riefen manche jetzt: „Ah, hier kommt die Französin.“

Eine ihrer beiden Töchter zog schon vor einigen Jahren mit vier Kindern nach Raanana, rund 20 Kilometer südöstlich von Netanja. Castiel wollte den Enkeln wieder näher sein, aber das allein sei es nicht gewesen. „Es fing damit an, dass Leute auf der Straße ‚Juden raus!‘ riefen. So etwas hatte ich vorher nie gehört.“ Jedes Mal, wenn es in Jerusalem oder in Gaza zwischen Israelis und Palästinensern knallte, habe sich der Zorn der Muslime in Frankreich gegen die Juden Luft gemacht. Ihre Nachbarin, eine Muslimin aus Algerien, habe ihr Haarbüschel auf die Fußmatte gelegt, „ohne Worte, ohne jemals etwas zu sagen“. Nur als Signal: Wir wollen dich hier nicht.

Vor einigen Monaten, erzählt Castiel, sei sie beim Versuch, ihren Vertrag bei einem Telekommunikationsunternehmen von Frankreich auf Israel zu erweitern, ausgelacht worden. Israel, wo ist denn das?, fragte die Frau von der Servicehotline. Fahren Sie doch lieber nach Kanada.

Irgendwann blieb Castiel vor dem Haus der Jewish Agency in ihrer Straße stehen und drückte den Klingelknopf. Sie erkundigte sich nach ihren Rechten. Die Einwanderungsagentur prüft den Grad des Judeseins und die Ansprüche auf Unterstützung beim Umzug und der Integration. Eine jüdische Großmutter reicht für die israelische Staatsbürgerschaft. Drei Monate später steht Alice Castiel mit ihrem One-Way-Ticket nach Tel Aviv auf dem Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Die Jewish Agency hilft bei der Bürokratie, bei der Suche nach einer Wohnung. Auch der Hebräischkurs in Israel ist gratis.

Castiel will sich jetzt zum Yoga anmelden und sich vielleicht ehrenamtlich engagieren. „Vielleicht kommen meine Freundinnen aus Paris auch noch her“, hofft sie.

Als müsse sie sich selbst bestätigen, betont sie dann noch einmal, dass das schon richtig war – zu gehen.

Susanne Knaul, 53, ist taz-Korrespondentin in Israel