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Archiv-Artikel

WIR:HIER

Kapitel 23

Die Gerüchte am Luise-Berkowitz-Gymnasium brodelten auch am nächsten Vormittag weiter.

Die Jahrgangssprecher der Oberstufe sprachen in der großen Pause mit den Vertrauenslehrern: So ginge das nicht weiter, die Schule müsse reagieren. Nach einer kurzen, aber hitzigen Diskussion einigten sie sich darauf, von der Direktorin die Genehmigung für eine Info-Veranstaltung in der Mittagspause zu fordern.

Das Verhandeln mit Frau Rutschke war, wie eigentlich jedes Gespräch mit der Schulleitung, unerfreulich. Ihre oberste Maxime lautete Ruhe, und alles, was diese Ruhe stören könnte, lehnte sie grundsätzlich ab.

„Aber Frau Rutschke, es ist alles andere als ruhig. Herr Demir ist das Hauptgesprächsthema und die Schüler haben ein Recht auf Informationen.“

„Paperlapapp, das legt sich. Das ist kein schulisches Problem, sondern ein privates. Es wäre ja noch schöner, wenn wir uns in das Familienleben der Schüler einmischten.“

„Das sehen wir ganz anders. Hier wird eine Familie gemobbt und die Schulleitung reagiert nicht. Spätestens morgen haben wir Dutzende von Elternanrufen im Sekretariat. Und Sie wissen, wie unangenehm unsere Eltern werden können, wenn sie eine Ungerechtigkeit vermuten. Die lassen nicht locker, wenn sie sich erst mal festgebissen haben. In ein paar Tagen steht die Presse auf der Matte und wirft uns vor, wir würden unterschwellig Rassismus fördern. Das ist dem Schulfrieden sicher nicht zuträglich.“

Gutes Argument! Frau Rutschke aber hatte auch noch einen Trumpf: den Datenschutz! Auch wenn sie einer solchen Versammlung zustimmen würde – was sie nicht vorhätte – der Datenschutz hätte Vorrang! Sie würde es nicht zulassen, dass Familie Demir zum Gegenstand einer zweifelhaften Veranstaltung würde. Außerdem wüsste doch niemand genau, was geschehen war. Damit war sie in die Falle getappt. Am Vorabend hatte Cems Tutor mit Frau Demir telefoniert, und die hatte ihn erstens auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht und war zweitens einverstanden, dass darüber in der Schule gesprochen werde. Wütend blitzte Rutschke den Tutor an. „Na, der übereifrige Kollege Koller, das hätte ich mir denken können. Immer im Dienste der Aufklärung unterwegs. Und die Klausuren, die Sie zu Hause haben, seit bereits drei Tagen, die korrigieren Sie einfach an einem anderen Tag, nicht wahr!“ Dann seufzte sie und gab ihre Erlaubnis, die Aula zu nutzen.

Allen Anwesenden war klar, dass sie ihnen diesen Sieg bei der nächsten Gelegenheit um die Ohren hauen würde. Das machte sie immer so. „Was, schon wieder ein höheres Budget für den Freizeitbereich? Nein, auf keinen Fall, ihr habt letztens schon weitestreichende Zugeständnisse bekommen. Ein Gymnasium ist kein Spielplatz.“ Auf der nächsten Schulkonferenz mit der Elternvertretung würde sie von ihrem engagierten Einsatz gegen Mobbingtendenzen sprechen und tun, als hätte sie das Ganze initiiert. Geschenkt.

Die Teilnahme an der Info-Veranstaltung war freiwillig und nur für die Oberstufenschüler genehmigt. Herr Sonderberg, der Lehrer für Politische Wissenschaft würde ein Referat über Staatsbürgertum zu halten, danach sollte Herr Clausen einen kurzen Bericht der tatsächlichen Umstände der Festnahme liefern. Es gäbe Gelegenheit Fragen zu stellen und zum Abschluss wollte die Sozialpädagogin Frau März noch etwas zu Mobbing im Allgemeinen und insbesondere zu der Gefährlichkeit von Gerüchten sagen.

Zu Beginn der Mittagspause füllte sich die Aula, die Schminkies interessierte das Thema nicht, sie kamen in der Hoffnung, bei irgendetwas Krassem dabei zu sein. Ein paar Zehntklässler hatten sich unter die Oberstufenschüler gemischt und waren erst nach langen Diskussionen bereit, die Aula wieder zu verlassen. „Das ist ungerecht. Cem ist mein Freund. Fragen Sie doch Maik, wenn Sie mir nicht glauben!“ Vier, fünf engagierte Lehrer waren auch gekommen. Laura, Matteo und Szusza saßen zwischen ihren Klassenkameraden.

Herr Sonderberg stand vorne, friemelte am Beamer herum, bis alle einen Platz gefunden hatten und nach und nach das Quatschen leiser wurde. Auf der Leinwand hinter ihm leuchtete eine Grafik über die Unterschiede der deutschen und türkischen Armee. Hier die Abschaffung der Wehrpflicht 2011, da der zwölfmonatige Vaterlandsdienst für jeden männlichen Türken über 19 und unter 42 Jahren. Die Möglichkeit einer Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissens- oder religiösen Gründen ist nicht vorgesehen. Türken, die länger als drei Jahre im Ausland leben, können gegen eine Zahlung von rund 10.000 Euro der Militärpflicht entgehen. Oder, weitere Möglichkeit: Sie zahlen etwas weniger – gestaffelt nach ihrem Alter – und leisten zusätzlich eine fünfzehntägige militärische Grundausbildung in einer türkischen Kaserne ab. Wer sich weder für das eine noch für das andere entscheidet, gilt als Fahnenflüchtiger und wird, wenn er Pech hat, trotz seiner deutschen Staatsbürgerschaft festgenommen. Jetzt übernahm Herr Clausen das Mikrofon.

„Und genau das scheint Herrn Demir passiert zu sein. Er besitzt beide Pässe, ist als Deutscher eingereist und wurde nach einer Visumsüberprüfung bei der Ausreise festgenommen. Gestern hat man ihn in ein Militärgefängnis überstellt und dort wartet er auf seine Verhandlung wegen Fahnenflucht.“

Herr Clausen überflog seinen Notizzettel und schwieg einen winzigen Moment zu lange. Als er wieder aufblickte, war es zu spät

Sarah Schmidt, publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de