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Archiv-Artikel

Mehr als 2.000 Frauen entführt

NIGERIA Frauen und Mädchen werden von Boko Haram als Sklavinnen gehalten oder aber als Attentäterinnen ausgebildet. Amnesty hat Überlebende befragt. Nichts als Terror

Die Verschleppten mussten lernen zu schießen, Bomben zu werfen, zu töten

AUS COTONOU KATRIN GÄNSLER

Es sollte ein fröhlicher Tag mit einer ausgelassenen Feier werden, jener Septembertag im vergangenen Jahr. Freunde der heute 19-jährigen Aisha wollten damals heiraten. Doch den so viel zitierten „schönsten Tag im Leben“ verwandelten die Kämpfer von Boko Haram in einen Albtraum. Sie überfielen die Hochzeitsgesellschaft und entführten mehrere Frauen. Sie, die Braut und deren Schwester gehörten dazu. Über all das und den anschließenden Horror, der in einem Ausbildungscamp in Gullak (Bundesstaat Adamawa) folgte, hat die junge Frau mit Amnesty International (AI) gesprochen. Sie ist eine von knapp 200 Augenzeugen, die die Menschenrechtsorganisation für ihren neuen Bericht interviewt hat.

Die Ergebnisse sind ernüchternd. Anders als häufig dargestellt, geht AI davon aus, dass die Terrormiliz allein seit 2014 mindestens 2.000 Mädchen und Frauen entführt hat. Beobachter in Nigeria hatten immer wieder betont, dass längst nicht nur die 276 Mädchen von Chibok verschleppt worden waren. International beachtet wurde das jedoch kaum. Umso größer ist nun das Entsetzen.

Aisha und andere Augenzeugen haben detailliert beschrieben, was sie in den Camps der nigerianischen Taliban – so wird Boko Haram gerne von Einheimischen in Nordnigeria genannt – erlebt haben. Einige der Frauen wurden beispielsweise zwangsverheiratet. Aisha jedoch spricht von einem dreiwöchigen Training. Sie und die übrigen Verschleppten mussten lernen zu schießen, Bomben zu werfen, zu töten. Kurze Zeit später wurden sie gezwungen, ihre eigenen Dörfer zu überfallen. Mit dieser grausamen Methode stellen die Terroristen auch sicher, dass die jungen Kämpfer keine Möglichkeit mehr haben, in ihre Heimat zurückzukehren. Das bedeutet: Unterstützung von der Familie gibt es nicht mehr, und sie sind fortan auf sich allein gestellt. Den Zwang, bei der Gruppe zu bleiben, erhöht das. In anderen Regionen Afrikas haben viele Kindersoldaten Ähnliches erlebt. Im Zusammenhang mit Boko Haram ist das Wort bisher allerdings nicht genutzt worden.

Dabei sahen die vergangenen Wochen wie ein kleiner Hoffnungsschimmer aus. Zwar hatte es weiterhin Angriffe gegeben. Aber sie gingen zurück, und Schreckensmeldungen von ganzen besetzten Dörfern und gehissten schwarzen Flaggen blieben aus. Boko Haram schien auf dem Rückzug zu sein. Deshalb wirkten die erneuten Anschläge auf Augenzeugen eher wie ein letzten Aufbäumen gegen das Militär. Dafür verantwortlich dürften auch die Soldaten aus den Nachbarländern Tschad und Kamerun sein, die Teil der neuen internationalen Truppe gegen die Terroristen sind.

Doch der am Dienstag veröffentliche Nigeria-Bericht dämpft den verhaltenen Optimismus. So soll Boko Haram weiterhin über rund 15.000 Kämpfer verfügen. Lange vermutete man eine Zahl zwischen 4.000 und 8.000. Seit Beginn 2014 schätzt AI außerdem, dass es mindestens 5.500 tote Zivilisten gegeben hat. „Jüngere Erfolge können höchstens als der Beginn des Endes von Boko Haram gewertet werden“, so Salil Shetty, Amnesty Internationals Generalsekretär.