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Archiv-Artikel

Indiens Wachstum macht krank

UMWELT Indien ist das diesjährige Partnerland auf der Hannover Messe. Das Land steckt in einem unlösbaren Dilemma zwischen Wachstum und schmutziger Energie aus Kohle

Die Luftbelastung ist so hoch, als würden Babys täglich zwei Zigaretten rauchen

AUS DELHI MICHAEL RADUNSKI

„Verlassen Sie Delhi.“ Der Ratschlag von Anant Mohan, der als Arzt beim All India Institute of Medical Science (AIIMS) in Delhi arbeitet, ist eindeutig. „Die Luft ist einfach zu schlecht, Sie können sich kaum schützen.“ Vor seinem kleinem Büro hat sich eine lange Schlange gebildet. Die Patienten leiden alle an Atemwegsproblemen. 2007 wurden am AIIMS 9.519 Patienten mit Atemwegserkrankungen aufgenommen, im vergangenen Jahr waren es schon 37.669.

Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO bemängelt, ist die Luftverschmutzung in der indischen Hauptstadt im Durchschnitt 16-mal so hoch wie der zulässige WHO-Grenzwert. Die Belastung der Kleinkinder ist so hoch, als würden sie jeden Tag zwei Zigaretten rauchen.

Diese Umweltprobleme dürften noch zunehmen, denn die indische Regierung will das Wachstum forcieren. Indien ist in diesem Jahr das Partnerland der Hannover Messe, die am Sonntag begann. Indiens Premier Modi war extra angereist, um gemeinsam mit Kanzlerin Merkel die Messe zu eröffnen. Rund 7,5 Prozent Wachstum erwartet Indiens Regierung für das laufende Haushaltsjahr. Im Finanzjahr 2015/2016 peilt man 8,1 bis 8,5 Prozent an.

Um diese ambitionierten Ziele zu erreichen, benötigt Indien jedoch Strom – und ist dabei vor allem auf den Umweltverschmutzer Kohle angewiesen. Aktuell werden zwei Drittel der Energie in Indien aus Kohle gewonnen. In den kommenden fünf Jahren will man gar doppelt so viel Kohle verheizen wie bisher. Doch Indiens Kohle ist von geringer Qualität. Sie besitzt einen hohen Ascheanteil, ihr Verschmutzungsgrad ist beinahe doppelt so hoch wie der der sauber verbrennenden Kohle aus dem Ausland.

Umweltschützerin Sunita Narain vom „Zentrum für Wissenschaft und Umwelt“ in Delhi fordert Premier Modi auf, die Fensterscheiben seines gepanzerten Fahrzeugs herunterzudrehen. Die wahre Gefahr sei nicht die Kugel einer Schusswaffe, sondern die Luft in Delhi.

Die Weltbank beziffert die jährlichen Kosten der Umweltzerstörung auf rund 5,7 Prozent des indischen Bruttoinlandsprodukts. Dennoch kann Indien auf die fossilen Brennstoffe nicht einfach verzichten. „Ein Kohleausstieg ist in Indien wirtschaftlich und politisch nicht machbar“, sagt Peter Hilliges. Der KfW-Direktor in Delhi verweist auf das chronische Energiedefizit in Indien. Schon jetzt würden zirka 10 Prozent des täglichen Energiebedarfs nicht gedeckt. „In einer solchen Situation kann die Politik nicht ausschließlich auf einen Energiesektor setzen.“

Modi versucht, sämtliche Energieträger gleichzeitig auszubauen. So soll der Anteil von Atomkraft an Indiens Energiegewinnung von derzeit 2 Prozent auf 10 Prozent steigen. Zum anderen will er aber auch erneuerbare Energien massiv fördern: Im Bundesstaat Madhya Pradesh soll nächstes Jahr der weltweit größte Solarpark fertiggestellt werden. Mit einer Leistung von 750 Megawatt wird er den bisherigen Spitzenreiter in der Wüste Kaliforniens locker übertreffen.

Aus Sicht des KfW-Direktors Hilliges ist dies eine richtige Maßnahme: „Vor allem im Solarbereich sehe ich großes Potenzial. Sehr kurze Bauzeiten und wettbewerbsfähige Kosten sind der große Vorteil.“ Dennoch mahnt er zu Geduld. „Eine Energiewende gelingt nicht in den nächsten zwei, drei Jahren, eher in zwei, drei Jahrzehnten.“