: „Sich politisch zu engagieren, ist Luxus“
WAHLBETEILIGUNG Wie viele Leute der Wahl fern bleiben, hängt in Hamburg vom Stadtteil ab. Das zeigt eine Bertelsmann-Studie zur jüngst vergangenen Bürgerschaftswahl. Entscheidend für die Motivation, am politischen Prozess teilzunehmen, sind demnach das Einkommen – und das soziale Milieu. Ein Besuch im armen Rothenburgsort und im reichen Nienstedten
der Wahlberechtigten gaben bei der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft am 15. Februar im Stadtteil Rothenburgsort ihre Stimme ab
VON KATHARINA SCHIPKOWSKI (TEXT) UND MIGUEL FERRAZ (FOTOS)
HedonistInnen sind Nicht-WählerInnen. Das behauptet jedenfalls die Bertelsmann-Stiftung. In ihrer Studie „Prekäre Wahlen“ untersuchen die AutorInnen die Beteiligung an den vergangenen Bürgerschaftswahlen in allen 103 Hamburger Stadtteilen. Surprise, surprise: In ärmeren Stadtteilen wird viel seltener gewählt als in reichen. Die Studie macht dabei verschiedene soziale Milieus aus. Da sind die „Prekären“: „Die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments.“ Oder die Traditionellen: „Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die in der kleinbürgerlichen Welt oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet ist.“ Oder eben die HedonistInnen: „Die spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht, die sich den Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft verweigert.“
Diese drei sozial schwachen Milieus stellen laut der Studie eine Mehrheit der Bevölkerung in Stadtteilen wie Rothenburgsort, Jenfeld, Horn oder Billbrook dar. Entsprechend selten wurde dort gewählt: In Rothenburgsort nahmen gerade einmal 38 Prozent an der Bürgerschaftswahl teil.
Auf dem Weg von der S-Bahn zum Stadtteilzentrum „Die Rothenburg“ kommt man an einem Restaurant vorbei, einem Groß- und Einzelhandelsladen für Anzüge – dann an Manis Callshop, einem Sonnenstudio und einem Getränkehandel. Auf einer Rasenfläche steht ein Denkmal: Ein Haus, das wie ein Block aus Grafit aussieht, fast ohne Fenster und ganz in Dunkelgrau. Trostlos und leblos steht es da und erinnert daran, das Rothenburgsort im Zweiten Weltkrieg komplett zerbombt wurde. Nachkriegsarchitektur prägt das Straßenbild. Es gibt hier nicht viel, außer Platz.
„Rothenburgsort ist ein bisschen wie eine Insel“, sagt die gebürtige Rothenburgsorterin Helga Frank-Wollgast. „Wie eine Insel mitten im Industriegebiet.“ Frank-Wollgast ist Mitgründerin der „Rothenburg“. Der Stadtteilrat trifft sich hier, es gibt eine Sozialberatung sowie Sprach- und Integrationskurse. In der Holzwerkstatt im Keller trifft sich die einzige freie Schnitzergruppe Hamburgs. „Aber Nicht-Wähler werden Sie hier nicht finden“, sagt Frank-Wollgast. „Da müssen Sie schon woanders hin gehen.“ Aber wo geht man in Rothenburgsort hin? Viele Alternativen gibt es nicht: Man geht ins „Chaplin“.
„In Rothenburgsort fehlt eigentlich alles“, sagt eine Frau, die an einem Tisch in dem urigen Bistro am Rothenburgsorter Marktplatz sitzt. Alle Tische sind belegt, es gibt Pils vom Fass für 2 Euro 90, Pizza und Pommes. Die Frau gehört zu den politisch Aktiven in der Nichtwählerhochburg – die Bertelsmann-Studie macht hier kein Milieu aus, in das sie sich einordnen ließe. Eine Traditionelle ist sie mit Sicherheit nicht, auch keine im Bertelsmann’schen Sinne Prekäre und keine Hedonistin. Was dann – eine Nicht-in-eine-Schublade-Passerin? Vielleicht so: „Eine Bewohnerin, die sich unabhängig von Parteien und Organisationen für ihren Stadtteil engagiert und nicht namentlich in der Zeitung auftauchen möchte.“
Man kennt sich im Stadtteil, nur 8.900 Menschen wohnen in Rothenburgsort. Einkaufen auf dem Markt läuft so: eine halbe Stunde einkaufen, zwei Stunden klönen. Der Markt findet zwei Mal die Woche statt, ansonsten gibt es Aldi, Lidl, Penny. Keinen Bioladen, keine Fachgeschäfte. Dafür fehle die Kaufkraft, heißt es. Obwohl die Arbeitslosenquote hier niedrig ist, ist Rothenburgsort der zweitärmste Stadtteil Hamburgs.
„Sich politisch zu engagieren, ist Luxus“, sagt die Engagierte. Es könne sich einfach nicht jeder leisten, nach Feierabend in politische Veranstaltungen zu gehen oder beim gemütlichen Biertrinken über das Weltgeschehen zu philosophieren. Die Menschen hätten andere Sorgen, konkretere Sorgen, zum Beispiel: Wie bringe ich meinen Lebensunterhalt auf?
„Aber die Leute versprechen sich auch nichts davon, wählen zu gehen!“, wirft ein Mann ein, der mit der engagierten Frau am Tisch sitzt und beim Biertrinken über das Weltgeschehen philosophiert. „Rothenburgsort wurde jahrelang vernachlässigt“, erklärt er. Man habe den Stadtteil geradezu verhungern lassen. Nicht mal eine weiterführende Schule gebe es in Rothenburgsort, nur eine Grundschule. Viele Leute zögen deshalb weg, wenn sie Kinder bekämen. Es gibt auch keine Kinderärzte, kein Kulturzentrum, und nur einen einzigen Geldautomaten.
Ob sich das demnächst ändert? Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt hat ein Entwicklungsprogramm für die Stadtteile im Hamburger Osten beschlossen, zu denen Rothenburgsort gehört. „Stromaufwärts an Elbe und Bille“ heißt es, und soll den Hamburger Osten aufwerten. Die Stadt wirbt für „Neue Erholungswelten an der Elbe“ und „Neues Raumpotenzial“, das es zu entdecken gibt.
Platz als Potenzial
Als die beiden Engagierten vor sieben Jahren von Altona hierher zogen, war Rothenburgsort noch unentdeckt. In Altona war es ihnen zu eng und zu teuer. Mittlerweile haben auch andere Rothenburgsort entdeckt. „Hier gibt es Platz und das hat die Stadt gemerkt und will es uns jetzt als Potenzial verkaufen“, sagt die Frau. Die Mieten seien schon gestiegen und die Entwicklung mache den Leuten Angst. „Aber einen Vorteil haben wir“, sagt sie: „Die Luft hier ist echt schlecht.“ Eine Müllverbrennungsanlage befindet sich knapp östlich der Stadtteilgrenze in Billbrook – im Süden ist Aurubis, das riesige Kupferwerk, „Giftschleuder und Goldgrube“, wie sie es in Rothenburgsort nennen.
Die ganze Industrie belastet die Böden – „hier wächst keine Tomate, und auch kein Basilikum“, sagt ihr Partner. „Wenn du richtig öko bist, kannst du hier weder atmen noch einkaufen.“ Die Grünen schneiden traditionell schlecht ab, nur 7,3 Prozent haben sie im Stadtteil bekommen. Stärkste Partei ist mit Abstand die SPD, mit über 52 Prozent. Danach kommt mit 12 Prozent die Linkspartei. „Die CDU hat hier noch nie einen Blumentopf gewonnen“, sagt eine andere Kneipengängerin.
Idyllisch ist es in dem Stadtteil an der Elbe nicht. Zwar gibt es viele Parkflächen an den Elbkanälen, „es gibt sogar Raubvögel und Füchse“, sagt die Engagierte, „aber nachts hörst du die industrielle Produktion ticken. Wir sind umgeben von Schwerindustrie. Und die ist laut und stinkt.“
Die meisten wählen FDP
Auch Nienstedten liegt an der Elbe, an der anderen Seite des Hamburger Zentrums, zwischen Othmarschen und Blankenese. Auch hier gibt es viel Natur, viel Grün. Aber anders als in Rothenburgsort fehlt die Schwerindustrie, und Nachkriegsarchitektur ist selten. In Nienstedten stehen stattliche Villen auf großen Grundstücken, es gibt ZahnärztInnen, KieferorthopädInnen, Speditionskaufleute. 75 Prozent der wahlberechtigten NienstedtenerInnen sind im Februar wählen gegangen. Die meisten haben die FDP gewählt. Die zweitgrößte WählerInnengruppe hat ihr Kreuz für die CDU gemacht. Während beide Parteien hamburgweit historisch schlechte Ergebnisse erzielten – die FDP 7,4 Prozent und die CDU 15,9, konnten sie in Nienstedten 22,9 Prozent (FDP) und 20 Prozent (CDU) absahnen.
In Nienstedten gibt es zwei Segelclubs, einen Reiterverein, einen Tennisclub, diverse Fußballvereine – und es gibt den Polo-Club Nienstedten. „Ein leistungsorientierter Familienclub“, wie sich der Verein auf seiner Internetseite beschreibt. Alle zwei Jahre findet hier über das Osterwochenende ein Hockeyturnier statt. 28 Mannschaften treten an, 500 SpielerInnen sind gekommen, „plus 200 Fans“, schätzt der Vorsitzende des Polo-Clubs, Thies Algner. Von der Dachterrasse des Vereinsheims blickt er über das riesige Spielfeld. Vier Mannschaften spielen immer zeitgleich. In der Sektion Damen haben gerade die „Zockerhasen“ gegen die „Pink Army“ gespielt.
„In Nienstedten ist die Welt noch ein Stück weit in Ordnung“, sagt Algner über seinen Stadtteil. „Es gibt viele Märkte, viel Einzelhandel und wenig Ketten. Es ist wie eine glückselige Enklave.“ Viele gute Freundschaften entstünden hier, auch über den Sport natürlich. Viele Vereinsmitglieder kennen sich seit Jahrzehnten. Algner selbst ist seit 51 Jahren Mitglied im Polo-Club, als er beigetreten ist, war er fünf Jahre alt. Man sei sehr traditionsbewusst – daher auch das gute Wahlergebnis für die CDU. Die Menschen in Nienstedten seien sehr daran interessiert, dass die Politik gut funktioniere. Also keine Extrem-Wähler, keine Minderheiten-Wähler. Extreme findet Thies Algner nicht gut. Wobei, als 2008 die Grünen in Hamburg mit der CDU regiert haben, das ging noch, erinnert er sich. Das hat ein bisschen Schwung in die Debatten gebracht. Generell findet er, die CDU würde Hamburg gut tun, so wie Merkel Deutschland gut tut.
Das größte soziale Milieu, das die Bertelsmann-Studie für die WählerInnenschaft Nienstedtens ausmacht, ist das Milieu der „Performer“: Das ist „die effizienzorientierte Leistungselite, für die ein global-ökonomisches Denken sowie eine hohe Multimediakompetenz charakteristisch sind“. Die zweitgrößte Gruppe ist das „konservativ-etablierte Milieu“, also das „klassische Establishment, das sich durch seine Verantwortungs- und Erfolgsethik auszeichnet und sich im Bewusstsein des eigenen Standes abgrenzt“.
der Wahlberechtigten gaben bei der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft am 15. Februar im Stadtteil Nienstedten ihre Stimme ab
Dazu könnte man Thies Algner zählen. Er fühlt sich Hamburg und seinem Stadtteil verbunden. Die NienstedtenerInnen seien Menschen, die Hamburg repräsentieren, sagt er. Auf den Einwand hin, dass hier ja nicht gerade der Durchschnittshamburger wohne – das Jahreseinkommen der Steuerpflichtigen NienstedtenerInnen liegt im Schnitt bei 138.000 Euro –, lenkt er ein: „Nein, der Durchschnitt nicht, das ist richtig.“
Unter den NienstedtenerInnen und den Menschen, die aus den benachbarten Elbvororten gekommen sind, um am Osterturnier teilzunehmen, ist die Stimmung am Ostersonntag ausgelassen. Die Sonne scheint, das Bier fließt, aus den Lautsprechern dröhnt Helene Fischer. Die, die schon rausgeflogen sind oder nur zum Zugucken gekommen sind, sitzen auf Bierbänken oder laufen über den Rasen, feuern ihre FreundInnen an, fallen sich glückstrunken um den Hals und wuseln durch das Clubheim.
„Die meisten sind aber nicht wegen des Sports hier, sondern aus Spaß“, erklärt Björn. Zusammen mit zwei Freunden und Turnierteilnehmern sitzt er im Büro und guckt durch die Fensterfront aufs Spielfeld. Der 25-jährige Schifffahrtskaufmann gehört seit Januar zum Organisationsteam des Osterturniers. „Viel Arbeit“, sagt er, „und alles ehrenamtlich.“
Björn ist in Nienstedten aufgewachsen, wohnt aber nicht mehr hier, seit er mit seiner Ausbildung fertig ist. „Wenn du bei deinen Eltern ausziehst, ziehst du weg aus Nienstedten“, erklärt er. Die Mieten hier könne man sich allein ohnehin nicht leisten und viele gingen auch zum Studieren in eine andere Stadt.
So auch sein Freund Basti. In blau-gelbem Trikot, Trainingsjacke und Sporthose sitzt er auf einem Stuhl im Büro, erschöpft, aber glücklich. Alles tue ihm weh, sagt er, nach den drei Turniertagen. Ob das mehr vom Sport, oder mehr von der Party kommt, kann er nicht so genau sagen. Aber er strahlt.
Basti ist 22 Jahre alt, wohnt in Blankenese und ist seit 16 Jahren Mitglied im Hockey-Verein des Nienstedtener Polo-Clubs. Er hat eine Ausbildung zum Außenhandelskaufmann gemacht und fängt zum nächsten Wintersemester ein BWL-Studium in Bayreuth an. Warum da? „Hamburg hat keinen guten Ruf für BWL“, sagt er. München sei ihm zu teuer und Berlin zu alternativ. Also Bayreuth.
Die NienstedtenerInnen beschreibt Basti so: „Gutverdiener über 40 mit gutem Bezug zur Wirtschaft.“ Gewählt haben beide, Björn und Basti. „Man will schließlich mitbestimmen.“ Da soll noch mal jemand sagen, dass die CDU eine Altherrenpartei ist.