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Archiv-Artikel

Venedig stirbt – oder doch nicht?

BILLIGTOURISMUS Kreuzfahrtschiffe, Massentourismus, Hochwasser und Korruption nagen an den Fundamenten der berühmten Lagunenstadt. Doch sie trotzt hartnäckig dem Untergang

Lesetipps

■ Die Themen Hochwasser, Massentourismus und Kreuzfahrtschiffe sind im Leben der Venezianer allgegenwärtig. Aber auch als Besucher kommt man an den Menschenmassen in den schmalen Calle, kilometerlangen Besucherschlangen vor der Markuskirche und streng riechenden Mülltonnen und Kanälen kaum vorbei.

■ All diesen Aspekten, aber auch den Schönheiten der einzigartigen Stadt, in der sie lebt, widmet sich die Verlegerin Marina Zanotto. In ihrem kleinen Verlag Corte del Fontego Editore bietet sie eine Reihe von „weißen Büchlein“ an, die das Leben in der Lagunenstadt erzählen und zum Teil auch wissenschaftlich analysieren.

■ Das Bändchen „Quantifying Cruising“ von Giuseppe Tattara versucht etwa, den durch Kreuzfahrtschiffe verursachten Schaden für die Stadt in Zahlen zu erfassen. Die meisten der Venedig-Büchlein sind außer auf Italienisch auch auf Englisch in der Reihe „Eye on Venice“ erhältlich. Sie tragen Titel wie „Dear Tourist“, „Building on Water“, „The Lagoon of Venice“ oder „The Ghetto Inside Out“.

■ Auf Deutsch ist der Essay „Venedig beleben“ erhältlich, in dem es um die Frage geht, warum so viele Venezianer ihre Stadt verlassen, die laut Unesco zu den Schätzen der Menschheit gehört und deren urbane Struktur ein weltweit einzigartiges Phänomen darstellt.

■ Die Büchlein gibt es in fast allen Buchhandlungen der Stadt, bestimmt aber bei Toletta, Marco Polo und Studium, nahe dem Markusplatz. Sie kosten 3 Euro, in der übersetzten Version 4 Euro.

VON MICHAELA NAMUTH

Giuseppe Tattara schaut aus dem Fenster. Seine Wohnung liegt über den Dächern des Viertels Dorsoduro. Er schaut auf rote Ziegeldächer, verwinkelte Innenhöfe und Balkönchen mit Blumentöpfen. Dahinter fließt der Canale della Giudecca. Zwei Kirchtürme ragen über die Dächer hinaus. „Wenn ein Kreuzfahrtschiff durch den Kanal fährt, sehe ich die Kirchen nicht mehr, und auch der Kanal verschwindet. Es ist, als ob jemand ein Hochhaus mit 14 Stockwerken vor dein Fenster schiebt“, sagt er. Tattara ist ein hagerer älterer Herr. In seinem Wohnungsflur hängt ein großes Holzkreuz. Er sagt die Dinge mit ernstem Gesicht.

Giuseppe Tattara ist aber auch Wirtschaftsprofessor an der Universität Venedig und einer der erbittertsten Gegner der rund 600 Kreuzfahrtschiffe, die sich jährlich ihren Weg durch die Lagune pflügen.

Er legt ein Büchlein auf den Tisch. Es ist die Studie „Quantifying Cruising“, die er selbst verfasst hat und die ihm und seiner Bürgerinitiative No Grandi Navi eine empirische Argumentationshilfe an die Hand gibt.

Die Daten, die dort zusammengetragen und verglichen werden, ergeben ein unschönes Bild: Die rund 1,7 Millionen Touristen, die jährlich mit den Riesenschiffen am Markusplatz anlegen, an Land gehen oder auf dem Schiff bleiben, verursachen den Venezianern mehr Kosten als Gewinn. Sie gefährden das ohnehin nicht sehr stabile Gleichgewicht der weltweit einmaligen Lagunenlandschaft, die unter dem Schutz der Unesco steht. Die Menschen, die aus den voll klimatisierten Meereshotels in die Stadt strömen, konsumieren wenig, produzieren aber viel Müll.

Die Schiffe hinterlassen ebenfalls Müll, verschmutztes Wasser und verursachen erhöhte Feinstaubwerte. Noch nicht quantifizierbar sind die durch die Wellenbewegungen verursachten Schäden an den Fundamenten der Kanäle. Das Fazit der Studie: Die Zukunft der Lagune, die ohnehin zunehmend durch Hochwasser bedroht wird, ist mit dem Boom des Kreuzfahrttourismus noch unsicherer geworden. „Es ist ein Drama“, flüstert Tattara.

Das finden inzwischen auch viele Venezianer, die von den Mahnungen der Umweltschützer bislang eher genervt waren. Die adligen Besitzer der historischen Paläste, darunter die Prinzessinnen von Savoia und Gonzaga, riefen anlässlich einer Gondelregatta dazu auf, das „gefährdete Ökosystem“ der Stadt vor den Riesenschiffen zu retten. Die eigens angefertigten Fahnen mit der Aufschrift „Venezia è laguna“ hängen an den antiken Häuserfassaden der wertvollen Immobilien, die auf dem Lagunengrund gebaut wurden, der weder Land noch Wasser ist.

Ihre Besitzer fühlen sich durch den Wellenschlag und die Wasserverschmutzung der Kreuzfahrtschiffe, aber auch durch das Image des Billigtourismus, den diese in die Stadt bringen, bedroht.

Das Thema Kreuzfahrtschiffe schafft seltsame Allianzen. Während Souvenirverkäufer und Fast-Food-Lokale sie nicht missen möchten, schlagen sich die Gepäckträger, die in der Stadt ohne Autos die Taxis ersetzen, auf die Seite der Bürgerinitiativen und adligen Hausbesitzer. „Aus den Riesenschiffen kommt selten jemand mit einem Koffer. Sie bleiben meist weniger als einen Tag und müssen auch nicht ins Hotel gebracht werden“, erklärt Mauro, der mit seinem Hund und drei Kollegen an der Mole von San Marco steht.

Er ist 55 Jahre alt. Den Job macht er, seit er 15 ist. Nur in der Sommersaison verdient er noch gut. Bald will er aufhören und seiner Tochter im Geschäft helfen. Sie verkauft Karnevalsmasken und Plastikgondeln in einem kleinen Laden nahe dem Bahnhof Santa Lucia.

Die meisten Souvenirs kommen inzwischen aus China. „Sie sind aber gut gemacht, auch die Glasfiguren, die viele als Muranoglas verkaufen“, findet Mauro. Er wohnt mit seiner Frau in der eingemeindeten Industriestadt Mestre. Eine Miete in Venedig kann er sich nicht leisten. Denn wer hier eine Immobilie besitzt, lässt sie sich von Feriengästen vergolden. Das schafft Unmut bei jenen, die einfach nur in ihrer Wohnung leben wollen.

So geht es Petra Reski, deutsche Journalistin und Autorin, die Venedig vor über 20 Jahren zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. „Wir begegnen im Hof jeden Tag anderen Menschen, die sich natürlich weder um die Regeln des Zusammenlebens noch um die Entsorgung ihres Mülls kümmern müssen“, erzählt sie.

Ein Drittel der venezianischen Wohnungen wird schwarz an Touristen vermietet. Reski ist sich aber auch bewusst, dass es ein außerordentliches Privileg ist, in einem antiken Palazzo nahe dem Markusplatz zu wohnen. Deshalb versucht sie wie alle Venezianer, eine Parallelexistenz zum Massentourismus zu leben. „Im Sommer kann man in den engen Gassen vor lauter Menschen gar nicht laufen. Da gehe ich nur frühmorgens aus dem Haus und dann höchstens wieder spätabends“, gesteht sie.

Trotz ihrer Liebe zu Venedig geht es in Petra Reskis erstem Krimi um die „Palermo Connection“. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Mafia, und ihre Freundin Donna Leon, die mit ihren Krimis über Venedig und den Commissario Brunetti zu weltweitem Ruhm gekommen ist, hat sie dazu angestachelt, einen Mafiakrimi zu schreiben.

Venedig kommt in Reskis Mafiageschichten allerdings nie vor. „Die Bosse haben jetzt erst begonnen, sich hier Restaurants zu kaufen. Die Lokale dienen als Geldwaschanlagen und haben oft nicht mal eine eigene Küche. Aber wahrscheinlich gibt es in Venedigs Gastronomie weniger Mafia als in München oder Dortmund“, sagt sie.

Reski und viele andere warnen aber dennoch davor, das Phänomen zu unterschätzen. Denn der Massentourismus ist ein appetitliches Geschäft für die Mafia. Diese Erfahrung hat auch der linksgrüne Lokalpolitiker, Exbürgermeister von Mestre und Buchautor Gianfranco Bettin gemacht. Er hatte in einem Artikel vor der Infiltrierung des Tourismus gewarnt; vor allem ging es um den Parkplatz Tronchetto, wo die Reisebusse aus ganz Europa ankommen. Danach bekam er das Bild eines Sarges zugeschickt.

„Der Massentourismus der Kreuzfahrtschiffe überschwemmt die Stadt in jedem Fall“

GIUSEPPE TATTARA, ÖKONOM

Einer von Bettins engsten Mitstreitern in der Lokalpolitik ist Beppe Caccia. Gemeinsam haben sie im Gemeinderat 14 Alternativvorschläge für das von vielen kritisierte Stauprojekt Mo.S.E eingereicht – ohne Erfolg. „Es ging um Projekte, die weniger kosten und technologisch viel innovativer sind, aber da war nichts zu machen. Jetzt wissen wir, dass die Befürworter alle geschmiert waren“, erklärt Caccia.

Im vergangenen Sommer kam heraus, dass aus der Lagune ein Sumpf geworden war. Bürgermeister Giorgio Orsoni ist wegen Korruption aufgeflogen und mit ihm das gesamte Konsortium Venezia Nuova. Dieses ist für die Finanzierung und den Bau des Projekts verantwortlich, das die Stadt vor dem Hochwasser schützen soll, das die Lagune inzwischen an mehr als 50 Tagen im Jahr bedroht. Das Konsortium aus staatlichen und privaten Firmen war mit Unterstützung von Exministerpräsident Silvio Berlusconi gegründet worden und verwaltet enorme Summen, die es ohne öffentliche Ausschreibungen an Baufirmen oder Berater vergeben kann. Jetzt wird es kommissarisch geführt.

„Hier verschwanden Milliardensummen, die der Stadt entzogen wurden, die sich heute weder sozialen Wohnungsbau noch einen Feuerschutz für die Gebäude leisten kann“, so Caccia.

Dennoch will er in die allgemeine „Untergangsrhetorik“ nicht einstimmen. „Im Gegensatz zu anderen Städten verzeichnet Venedig einen Bevölkerungszuwachs außerhalb des touristischen Zentrums“, sagt er. Doch ohne Tourismus kann die Stadt seiner Meinung nach nicht überleben: „Man kann nicht einfach die Schotten dicht machen.“

Im Mai gibt es Stadtratswahlen und eine neue Chance. Der Bürgermeisterkandidat der Mitte-links-Partei (PD) ist Felice Casson, Staatsanwalt und Untersuchungsrichter. Er hat schon gemeinsam mit Bettin für die Entschädigung der Opfer der Petrolindustrie im venezianischen Hafen Marghera gekämpft. Das erste Projekt, das Caccia und Bettin stürzen wollen, ist der vom Mo.S.E-Konsortium durchgesetzte Canale Contorta, der quer durch die Lagune gegraben werden soll, um die Kreuzfahrtschiffe vom Markusplatz fernzuhalten. Auch Giuseppe Tattara ist gegen den Kanal.

„Es wäre der Todesstoß für die Lagune“, sagt er. Der Ökonom hält aber auch nichts von dem Alternativvorschlag, die Meereskreuzer im Industriehafen von Marghera einlaufen zu lassen oder eigens eine Insel mit Anlaufstelle zu bauen. „Der Massentourismus der Kreuzfahrtschiffe mit all seinem Müll überschwemmt die Stadt in jedem Fall“, befürchtet er. Dann schaut er wieder aus dem Fenster. Die Abendwolken über der Lagune sind rosa, und der Blick auf die Kirchtürme ist frei – zumindest bis zum nächsten Morgen.