: Vertrauen statt Ritalin
HYPERAKTIV Wenn Kinder ihre Eltern und Lehrer nerven, werden sie oft mit Medikamenten ruhiggestellt. Es gibt schonendere Alternativen, von Globuli bis zu mehr Zuwendung
VON ANNA KIRA KOLTERMANN
Das „Zappel-Phillip-Syndrom“, im Fachjargon Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) genannt, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Bei den Symptomen, von denen in Deutschland etwa 600.000 Kinder und Jugendliche betroffen sind, scheinen sich jedoch alle einig. Die Hauptkomponenten von ADHS sind Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Sie gefährden vor allem die soziale Entwicklung eines Kindes.
Anders ist es bei der Entstehung der Störung. „Die Ursachen von ADHS sind multifaktoriell und bis heute nicht abschließend geklärt. Biologische wie psychosoziale Faktoren spielen dabei eine Rolle“, erklärt Christoph Trapp, Pressesprecher des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte (DZVhÄ). Die einen verweisen auf Genmutationen oder das schwächere impulskontrollierende Frontalhirn, andere benennen ein Ungleichgewicht an Botenstoffen im Hirn als Ursache.
Stefan Schmidt-Troschke, Arzt und Vorstand des Dachverbandes für Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD), fordert hingegen: „Wir sollten aufhören, nur die Kinder zu betrachten, sondern anfangen, die Gesellschaft und die Umgebung, in der Kinder groß werden, anzusehen.“ Man kann also auch, ohne auf Ergebnisse aus der Hirnforschung zu warten, anfangen, etwas zu ändern. „Kinder verbringen fast ein Drittel ihrer Zeit in der Schule. Da kann man ansetzen“, so Schmidt-Troschke, der als Kinder- und Jugendarzt auf Entwicklungsneurologie spezialisiert ist. Er fordert die Schaffung einer entwicklungsorientierten Pädagogik, bei der man auf die natürliche Entwicklung des Kindes guckt.
Doch was heißt natürliche Entwicklung? Schmidt-Troschke: „Wir müssen den Kindern ihr Kindsein lassen. Wir leben in einer Reizgesellschaft, in der uns alles gar nicht schnell genug gehen kann. Natürliche Entwicklung heißt, Kindern spielerisch Weltbegegnung zu ermöglichen und damit aufzuhören, sie so schnell zu intellektualisieren. Fast jedes Kind ist lernmotiviert. Gerade Kinder mit ADHS sind häufig kreativ.“
Schmidt-Troschke bestreitet nicht, dass extreme Fälle und solche Fälle, wo sogenannte Komorbiditäten eintreten – Begleiterkrankungen wie die Störung des Sozialverhaltens –, professionelle Hilfe benötigen. „Das heißt jedoch nicht, dass sie gleich medikamentös behandelt werden müssen.“ Medikamentös behandelt man ADHS mit Methylphenidat, besser bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Ein Wirkstoff, der unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Der vermeintliche Vorteil der Behandlung mit Ritalin bestehe darin, so Trapp, dass das „störende“ Verhalten abnehme, die Ursachen der ADHS-Erkrankung jedoch ungelöst blieben. „Hinzu kommen mögliche Nebenwirkungen wie Wachstumsverzögerungen, Rückgang des Appetits, Übelkeit oder Hautkrankheiten. Beim Absetzen können Entzugserscheinungen wie depressive Verstimmungen auftreten.“
Schmidt-Troschke sieht das etwas pragmatischer. „Methylphenidat kann manchmal eine vernünftige Maßnahme sein, aber sie muss gut begleitet sein und ist für mich eher eine Möglichkeit, die weiter hinten steht.“ Er spricht von der Notwendigkeit eines multimodalen Ansatzes. Das Einbeziehen der Umwelt und vor allem der Eltern nennt sich in der Fachsprache Psychoedukation. Bei schweren Fällen könne ein Medikament wie Ritalin die Bereitschaftsgrundlage bilden. ADHS-Erkrankte müssten jedoch immer noch lernen, ihr Leben zu regulieren und zu strukturieren. Trapp nennt die nebenwirkungsfreie Homöopathie eine „vitale Alternative zur konventionellen Behandlung mit Ritalin“. Das Wirken sei „in Studien nachgewiesen, die den höchsten Standard der evidenzbasierten Medizin erfüllen.“
Eine Studie, unter der Leitung von Klaus von Ammon, Universität Bern, ist zu dem Schluss gekommen, dass sich durch Homöopathie die kognitiven Leistungen und das soziale Verhalten von ADHS-Kindern verbesserten. Zudem sei es kostengünstiger als konventionelle Mittel. Schmidt-Troschke sieht die Studie kritisch, da sie nur 83 Probanden aufführe. Aber er meint auch: „Wenn Homöopathie im Einzelfall zur Veränderung führt, ist das gut.“ Letztlich gebe es eine breite Palette an alternativen Behandlungsansätzen: von Psychomotorik über Heileurythmie und Kunsttherapie bis hin zu speziellen Diäten.
Das Wichtigste bleibe aber, Vertrauen und eine Beziehung herzustellen. Hektische Eltern und wechselnde Therapien seien nicht gerade sinnvoll bei hektischen Kindern. Auch eine andere Pädagogik wäre wohl angebracht: „Es müssen nicht alle in Waldorfschulen. Regelschulen sollten zum Lebensraum werden und nicht als Anstalt wahrgenommen werden. Das allein würde viele Kinder abfedern.“