: Verbrecher auf Sommerfrische
VERDRÄNGUNG Unsere Autorin recherchiert seit Jahren über die Mafia und was sie in Deutschland treibt. Ihre Diagnose: Wir sehen das zu locker
■ Februar 2014: Ermittler suchen bei einer Großrazzia in Deutschland und Italien mit Hundestaffeln und Hubschraubern nach 27 Mitgliedern eines Clans aus dem sizilianischen Catania, denen neben Erpressung und Rauschgifthandel vorgeworfen wird, 1,5 Millionen EU-Agrarfördermittel von den Empfängern erpresst zu haben.
■ November 2013: Die HSH Nordbank wird durchsucht. Drei deutsche Geschäftsmänner sollen über eine Finanzierung der Bank für eine süditalienische Windkraftanlage geholfen haben, Gelder der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta zu waschen.
■ Januar 2013: 400 Ermittler nehmen bei einer Razzia in Nordrhein-Westfalen elf Verdächtige fest, die über Strohfirmen im Baugewerbe Schwarzarbeit und Steuerstraftaten mit einem Gesamtschaden von mehr als 30 Millionen Euro begangen haben sollen.
VON PETRA RESKI
Die Geschichte der Mafia in Deutschland ist eigentlich ein Fall für den Psychotherapeuten. Ein ziemlich spannender Fall von Verdrängung.
Im Grunde müsste man sie alle auf die Couch legen: die großen Bauunternehmer, die wissen, dass dieser Subunternehmer den Bauauftrag zu diesen Dumpingpreisen unmöglich mit legalen Mitteln ausführen kann. Die Bankdirektoren, die ihre Geldwäschebeauftragten anweisen, angesichts der prekären Wirtschaftslage in diesem strukturschwachen Gebiet bei diesem Investor bitte mal ein Auge zuzudrücken.
Die Unternehmer, die mit einem stadtbekannten Boss der ’Ndrangheta Exkursionen nach Kalabrien machen, um mit ihm Geschäftliches zu besprechen. Die Politiker, die das Catering für ihre Wahlparty von dem befreundeten aktenkundigen italienischen Gastronomen sponsern lassen und ihm dafür günstige Darlehen des Bundes verschaffen. Die Bürgermeister, die angesichts der Investition von Mafiageldern in ihrer Innenstadt ihre Augen verschließen. Die Rechtsanwälte, Finanzberater und Bankiers, die dabei behilflich sind, das schmutzige Geld in den legalen Geldkreislauf einzuschleusen. Die Linken und die Liberalen, die von der Existenz der Mafia auch nichts wissen wollen, weil sie dann ihre heilige Kuh vom Überwachungsstaat schlachten müssten. Kurz: Deutschland ignoriert die Mafia bewusst, weil Deutschland von der Mafia profitiert.
Bis heute habe ich noch keinen einzigen Politiker in Deutschland gehört, der das Thema „Mafia“ in den Mund genommen hätte, ohne sogleich das Wort „Rückzugsraum“ dranzukleben: Ja, es mag sein, dass es hier so etwas wie Mafia gibt – die ist aber nicht aktiv, eher so auf Sommerfrische: Keep cool, it’s only the mob. Godfathers on holiday. Don’t worry.
Acht Jahre nach dem Mafiamassaker von Duisburg ist Deutschland für die Mafia immer noch das Paradies auf Erden: Die Mafia will nicht auffallen, und die Deutschen wollen die Mafia nicht sehen. Eine Win-win-Situation. Es sind die Mafiosi selbst, die die Deutschen in der Überzeugung bestärken, dass die Mafia nur ein italienisches Problem sei. Genauer gesagt: ein süditalienisches Problem. Die Mafia existiere nur in rückständigen, süditalienischen Dörfern. Die wirkliche Mafia jedenfalls. Also die Mafia, die metzelt und Autos in die Luft jagt und Schutzgeld erpresst und Politiker besticht. Alles andere sei vielleicht so etwas wie organisierte Kriminalität – aber keine Mafia. Entspannt euch, liebe Deutsche! Eure Gesetze sind zu streng, und ihr seid zu gesetzestreu, als dass die Mafia bei euch wirklich Fuß fassen könnte!
Und wenn sich die Wirklichkeit in den Weg wirft, greift man in die Kiste mit der Schmutzwäsche: Denn was waren denn die Mafiamorde von Duisburg, denen sechs Menschen zum Opfer fielen? Letztlich doch nur Italiener, die andere Italiener erschossen haben, oder? „Die unmittelbare Drohung und die Ausübung von Gewalt richten sich nach polizeilichen Bewertungen vorwiegend gegen italienische Landsleute“, verkündete die Düsseldorfer Landesregierung nach den Morden auf eine Große Anfrage zur Bedrohung Nordrhein-Westfalens durch die Mafia. So beschwichtigte sie die aufgeschreckten Bürger und schmetterte Kritik der SPD-Opposition ab, die die Große Anfrage gestellt hatte. Wer noch Zweifel hatte, dem wurde mitgeteilt: „Die Landesregierung hat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Standort Deutschland eine besondere Attraktivität für eine zukünftige nationale Ausbreitung der italienischen OK aufweist.“ Kaum war die SPD wieder an der Regierung, wurde im Düsseldorfer Parlament nicht mehr von der Mafia gesprochen. Sonst hätte man ja gegen sie vorgehen müssen.
Die Antwort der Düsseldorfer Landesregierung erinnert an jenes ferne Italien, in dem die Mafia noch geleugnet werden konnte. In den sechziger Jahren wurde in Palermo das Bonmot des Kardinals Ernesto Ruffini berühmt, der sagte: „Mafia? Ist das nicht eine Seifenreklame?“, und sie Papst Paul VI. gegenüber als quantité négligeable herunterspielte. Eine Bande von Kleinkriminellen, von den Kommunisten erfunden, um Sizilien, die damalige Regierungspartei Democrazia Cristiana und die ihr verbundene Kirche zu diskreditieren. Und als der Boss Gerlando Alberti in den siebziger Jahren in Mailand verhört wurde, fragte er: „Mafia? Was soll das sein? Eine Käsesorte?“ Der Boss wusste, dass die Norditaliener damals noch glaubten, gegen die Mafia gefeit zu sein. Sie galt ausschließlich als Geißel Süditaliens – so wie sich das bis heute viele wünschen, in Italien und in Deutschland.
Als ein tapferer Reporter der Augsburger Allgemeinen im Frühjahr 2014 in Kempten, einer langjährigen Hochburg der Mafia im Allgäu, die Geschichte von den 1,6 Kilo Kokain im Spind des Drogenfahnders ans Licht brachte, gaben sich alle erstaunt: Wie? Mafia in Kempten? Der Innenminister drohte „sorgfältigste Ermittlungen“ an, man bangte um die Gefühle der in Kempten lebenden Italiener und versuchte sich damit zu trösten, dass der Drogenfahnder die 1,6 Kilo Kokain nur zu Schulungszwecken in seinem Spind aufbewahrt habe, die Mafia in Kempten eigentlich Geschichte sei. Das Ganze sei also nichts als ein bedauerlicher Einzelfall, auch weil in Kempten ohnehin andere kriminelle Banden der Mafia Konkurrenz machten. Inzwischen ist der Drogenfahnder zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden – wegen Drogenbesitzes, gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung seiner Ehefrau. Die Herkunft des Kokains: bleibt weiterhin ungeklärt.
Im September 2014 dokumentierte ein Polizeivideo ein Geschäftstreffen kalabrischer Mafiabosse in einem Schweizer Landgasthof: Man sieht übergewichtige Herren, die mehr oder weniger lustlos die Begrüßungsformeln herunternudeln und den Generationswechsel anstreben – und dabei an die zur Bequemlichkeit neigende Jugend appellieren: „Wir haben uns unsere Namen gemacht, jetzt seid ihr an der Reihe! Wer arbeiten will, kann arbeiten! Es gibt Arbeit für alle: Erpressungen, Kokain, Heroin! Zehn Kilo, zwanzig Kilo, ich bring sie euch persönlich vorbei.“ Das Treffen der in Deutschland und der Schweiz ansässigen Bosse wurde Gegenstand einer Ermittlung, die eine Fortsetzung von zwei großen Ermittlungsaktionen war: „Crimine“ und „Crimine 2“, in deren Verlauf in den Jahren 2010 und 2011 mehr als 340 Mitglieder der ’Ndrangheta in der ganzen Welt verhaftet wurden. ’Ndrangheta-Zellen wurden in Italien, Australien, Kanada, Deutschland und der Schweiz entdeckt. Im deutschen Grenzgebiet zur Schweiz, in Singen, Rielasingen und Radolfzell, in Ravensburg und Frankfurt, aber auch in Frauenfeld und Zürich wickelten seit Jahrzehnten ansässige, voll funktionstüchtige Clans ihre Geschäfte ab: Waffen- und Drogenhandel, Geldwäsche, Prostitution, Giftmüll. Die kalabrische ’Ndrangheta dominiert den Kokainhandel weltweit.
Interessant für die italienischen Ermittler der „Crimine“-Operation war die Rivalität zwischen den Clans in Frauenfeld und Zürich und jenen in Deutschland: Die größte Sorge des Bosses Bruno Nesci im deutschen Singen – eines bis dahin unverdächtigen Bäckers – war nicht etwa die deutsche Polizei, auch nicht die italienische, sondern „Ntoni lo svizzero“, der Anführer der konkurrierenden Clans in der Schweiz: Denn die „Schweizer“ seien kurz davor, ein weiteres „locale“ in Frankfurt zu gründen, was Nescis Macht verwässert hätte. Deshalb kam es zwischen den Bossen in Deutschland und der Schweiz zu frenetischen Telefonaten, hektischen Reisen zum Mutterhaus im kalabrischen Rosarno und regelmäßigen Lagebesprechungen in Bars und Pizzerien. Bei einem Treffen in einem Landgasthof in Wängi unweit von Frauenfeld ging es um die dringende Frage, ob diese Zelle tatsächlich berechtigt sei, zwei Clanmitgliedern einen höheren Rang zu erteilen.
An der Geduld, mit der sich die Bosse ihren verzwickten Hierarchiefragen widmeten, lasen die italienischen Ermittler nicht nur ab, wie sicher sich die ’Ndrangheta-Clans in der Schweiz und in Deutschland fühlten, sondern auch, dass es hier um eine langfristige Investition in die Zukunft gehen sollte: das Territorium abzustecken. Und dabei soll es ruhig zugehen. Morde, wie zuletzt im hessischen Nierstein, sind extrem kontraproduktiv: „Restaurant-Besitzer mit 14 Schüssen hingerichtet: Nachbarn vermuten die Mafia hinter der Tat“, schrieb die Bild am Sonntag. „36-jähriger Tatverdächtiger festgenommen“, schrieb das Wormser Wochenblatt. Fundort der Leiche: die Pizzeria La Casa in Nierstein. Tatzeit: die Nacht zum dritten Advent. Die Soko Casa kam zum Einsatz, Staatsanwaltschaft und Polizeipräsidium verkündeten umfangreiche Ermittlungen: Ja, sowohl das Umfeld des 36 Jahre alten italienischen Tatverdächtigen, der in Deutschland aufgewachsen sei, als auch das des 51-jährigen Getöteten werde abgeklärt. Nein, der Tatverdächtige habe sich nicht zur Sache eingelassen. Ja, der Sachverhalt sei von allgemeinem Interesse. Nein, Einzelfragen würden nicht beantwortet. Mord, Pizzeria, Italiener: „Das war kein Überfall, das war eine Hinrichtung. Wie bei der Mafia“, sagen die Anwohner zur Bild am Sonntag, die sich schaudernd an die Mafiamorde von Duisburg erinnerte. Ende März wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Mainz nun gegen den 36-Jährigen ermittelt, es gebe allerdings „wenige Erkenntnisse zu den Hintergründen der Tat“, schrieb die Mainzer Allgemeine Zeitung.
Ruhe ist oberste Bürgerpflicht. Nicht nur aus Sicht der Politik, sondern auch aus Sicht der Mafia – die nie ein Fremdkörper ist, sondern sich bis zur Unkenntlichkeit der Gesellschaft anpasst, in der sie lebt. Die Bosse wissen, dass man zwar in Kalabrien, Sizilien oder Neapel die Bürger mit Gewalt einschüchtern kann, in Deutschland die gleiche Taktik jedoch extrem kontraproduktiv wäre. Also versuchen sie vor allem zwei Vorurteile am Leben zu halten, mit denen sie vielen Deutschen entgegenkommen: dass die Mafia lediglich eine Art lichtscheues Gesindel sei, also eine Verbrechensorganisation, die irgendwo im gesellschaftlichen Unterholz ihr Unwesen treibt, anders als die Guten, Anständigen, Rechtschaffenen. Und dass sich die Mafia darauf beschränke, ihre kriminellen Geschäfte in ihrem Ursprungsland zu betreiben und Deutschland nicht als „Aktionsraum“, sondern immer nur als „Ruheraum“ zu nutzen, vor dem nächsten Einsatz als Killer in San Luca oder Corleone, weil wir Demokraten über genügend Antikörper verfügen, um die Ausbreitung der Mafia aufzuhalten.
Übrigens versucht man selbst in Italien die Mafia noch zu verdrängen, zumindest außerhalb ihrer Ursprungsregionen. Was auch nicht immer klappt. 2014 wurden allein drei gigantische Mafia- und Korruptionsskandale bekannt: In Mailand wird die Expo von der ’Ndrangheta aufgefressen, in Venedig wurde die Bestechungsaffäre um die Hochwasserschleuse „Mose“ enthüllt, in die hundert Politiker und hohe Beamte verwickelt sind, und in Rom zeigte der jüngste Mafiaskandal, dass in der Hauptstadt so gut wie jeder öffentliche Auftrag von den Bossen kontrolliert wurde: rechte und linke Politiker Seite an Seite am Tisch mit den Bossen. Die Mafia verdient in Rom an der Müllabfuhr, an der Instandhaltung von Parks, an der Verwaltung und dem Management von Kindergärten, an Notunterkünften für Flüchtlinge, an Roma-Camps.
Die römische Mafia-Ermittlung trägt den schönen Namen „Zwischenwelt“, weil einer der verhafteten Mafiosi in einem abgehörten Telefonat die wohl passendste Definition der Mafia der Moderne lieferte: „Das ist die Theorie der Zwischenwelt. Oben sind die Lebenden und unten sind die Toten, und wir sind dazwischen. Wir sind dazwischen, weil auch die Personen, die sich in der oberen Welt befinden, ein Interesse daran haben, dass jemand aus der unteren Welt Sachen erledigt, die niemand anderes machen kann. Das ist es: Alles vermischt sich miteinander.“
Mitglieder der italienischen Mafia sind Ermittlern in Deutschland bekannt Quelle: BKA
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Milliarden Euro beträgt der geschätzte Jahresumsatz der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta in etwa 30 Ländern Quelle: Italienisches Forschungsinstitut Demoskopika
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Ermittlungsverfahren liefen zwischen 2007 und 2013 gegen Mitglieder der italienischen Mafia in Deutschland Quelle: BKA
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Menschen wurden 2007 – im Streit zweier verfeindeter Familien – vor einer Duisburger Pizzeria von Mafiosi erschossen Quelle: BKA
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Millionen Dollar hat der Mafiafilm „Der Pate“ weltweit eingespielt Quelle: IMDb
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Mal haben „FAZ“, taz, „SZ“ und „Spiegel“ seit 2013 über die Aktivitäten der italienischen Mafia in Deutschland berichtet Quelle: eigene Archiv-Recherche
Es vermischt sich nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, wo die Mafia seit den sechziger Jahren heimisch ist. Die sizilianische Cosa Nostra, die kalabrische ’Ndrangheta und die kampanische Camorra. Konkurrenz zwischen den einzelnen italienischen Mafiaorganisationen gibt es nicht. Der deutsche Kuchen reicht für alle. Dass sich daran nichts ändert, dafür sorgt die deutsche Gesetzeslage, die, wie zahlreiche italienische Antimafia-Staatsanwälte immer wieder betonen, ein Einladungsschreiben an die Mafia ist.
Mafiazugehörigkeit ist kein Strafdelikt: Anders als in Italien, wo die alleinige Zugehörigkeit bereits bestraft wird, muss in Deutschland die konkrete Vorbereitung einer Straftat nachgewiesen werden. Will sagen: Okay, du bist vielleicht ein Mafioso, aber solange du hier legal lebst, mit deinem Geld, das du mit Mord, Prostitution, Giftmüll, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel verdient hast, ist das kein Problem für uns. Vor allem nicht, wenn du dein Geld in die deutsche Wirtschaft einfließen lässt; etwa, indem du einen Bahnhof baust oder ein Stadtviertel hochziehst oder eine marode ostdeutsche Innenstadt renovierst, kein Problem, wir fragen nicht nach, woher das Geld kommt, dafür haben wir die Beweislastumkehr: Der Polizist muss nachweisen, dass dein Geld aus schmutzigen Quellen stammt; aber mach dir keine Sorgen, der Polizist kann nicht einfach auf Verdacht ermitteln, anlassunabhängige Finanzermittlungen sind in Deutschland nicht erlaubt.
Abhören ist praktisch unmöglich und Beschlagnahmung von Mafiagütern nur theoretisch möglich, praktisch aber nicht, denn anders als in Italien, wo bereits Güter beschlagnahmt werden können, wenn nur der Verdacht auf Mafiazugehörigkeit besteht, kann das in Deutschland erst dann geschehen, wenn ein definitives, letztinstanzliches Urteil wegen Mafiazugehörigkeit vorliegt. Was bei Mafiosi, die seit vierzig Jahren in Deutschland leben und gegen die in Italien nicht ermittelt wird, nicht der Fall ist.
Aber nicht nur italienische Strafverfolger wundern sich, auch deutsche: „Für die Verbrecherkartelle ist Deutschland das gelobte Land, weil unsere Justiz die Aktivität der Mafia völlig unterschätzt“, schrieb Egbert Bülles, der langjährige Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität des Kölner Justizzentrums, in seinem Buch „Deutschland Verbrecherland?“. „Das liegt unter anderem an den deutschen Strafverfolgern, speziell an den Landeskriminalämtern, die beharrlich islamistische Terroristen verfolgen, kriminelle Organisationen wie die Mafia aber weniger auf dem Schirm haben. Dabei wäre es gut, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.“ Seit dem 11. September 2001 wurden viele Beamte aus den Abteilungen für Organisierte Kriminalität abgezogen, um sich um das zu kümmern, was die Staatsanwälte hinter vorgehaltener Hand „Bärtige belauern“ nennen.
Der Mafia ist das nur recht. Zumal sie die meisten Journalisten auch nicht fürchten muss. Und die renitenten kann sie sich mit dem Presserecht vom Leib halten. Mit der vermeintlichen Verletzung des Persönlichkeitsrechts lassen sich nicht nur Berichte über mutmaßliche Stasi-Kontakte eines Politikers stoppen, sondern auch über Mafiosi und ihre Verbindungen in Politik und Wirtschaft. Wer gegen einen Artikel oder ein Buch klagen will, kann sich das Gericht und sogar den Richter aussuchen – und wendet sich dabei an Gerichte, die für ihre Pressefeindlichkeit bekannt sind. Ende der Berichterstattung. Als mein Buch „Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern“ erschien, verklagten mich mehrere italienische Gastronomen – und weder diverse BKA-Berichte, Aussagen hochrangiger Antimafia-Ermittler noch kiloweise Ermittlungsunterlagen italienischer und deutscher Staatsanwaltschaften reichten aus, um die Gerichte zu überzeugen, dass die eigentliche Aufgabe eines Journalisten in der Verdachtsberichterstattung besteht – und nicht darin, lediglich erfolgte Urteile zu referieren. Wir wurden dazu verurteilt, Passagen des Buches zu schwärzen und Schmerzensgeld für das erlittene Unrecht zu zahlen.
Aber oft müssen sich die Mafiosi in Deutschland nicht mal die Mühe einer Klage machen: Viele Journalisten sind der Faszination für das Verbrechen erlegen und halten es für einen Scoop, wenn sie einen Boss interviewen und dabei nicht merken, dass sie als Lautsprecher für die Mafia benutzt werden.
Das, was der römische Mafioso als „Zwischenwelt“ bezeichnete, haben Palermos Antimafia-Staatsanwälte schon vor vielen Jahren in einer Ermittlung beschrieben, die den Namen „Kriminelle Systeme“ trug – und bezeichnenderweise im Jahr 2001 archiviert wurde. Die Staatsanwälte stellten die Bildung von Kartellen fest, die aus einem Netzwerk aus Politikern, Unternehmern und Mafiosi bestehen – die über sogenannte Scharnier-Personen kommunizieren: Die Politiker verwalten die öffentlichen Gelder und die Verwaltungsgenehmigungen. Die Unternehmer kontrollieren den Zugang zum Markt, die Mafiosi waschen illegales Kapital und stellen ihr Gewaltpotenzial zur Verfügung, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die man mit normalen Mitteln nicht beseitigen kann.
Diese kriminellen Systeme haben sich in den vergangenen Jahren bestens entwickelt: Die Mafia ist zu einem internationalen Anbieter von illegalen Gütern und illegalen Dienstleistungen geworden, für die seit der Globalisierung der Wirtschaft eine unendlich große Nachfrage besteht – von Millionen anständiger Bürger, denen die Mafia nicht nur Güter wie Prostituierte, Kokain, Kinderpornomaterial, Waffen und billige Arbeitskräfte liefert, sondern auch Dienstleistungen: Sie bietet Investitionskapital an, falsche Rechnungen, mit denen Steuern gespart werden können, illegale Giftmüllbeseitigung und Unterstützung bei der Vermittlung öffentlicher Aufträge, beim Erreichen von Verwaltungsgenehmigungen.
Und damit sind wir beim Kern angelangt, dem Verhältnis zwischen Politik und Mafia. Ohne Ansprechpartner in der Politik ist die Mafia ein Fisch auf dem Trockenen. Oder wie es der abtrünnige Boss Antonio Giuffrè sagte: „Mafia und Politik verhalten sich zueinander wie Fisch und Wasser. Es gibt kein Wasser ohne Fische. Und keinen Fisch ohne Wasser.“ Das klingt einleuchtend, ist aber das größte Tabu, bis heute. Der 1992 ermordete Staatsanwalt Paolo Borsellino sagte: „Politik und Mafia sind zwei Mächte, die auf demselben Territorium leben. Entweder sie bekriegen sich. Oder sie einigen sich.“ Meistens einigen sie sich. Und wer auf die unglückselige Idee verfällt, an der Nahtstelle zwischen Mafia und Politik zu kratzen, hat ein Problem: Journalisten werden verklagt, verleumdet und bedroht. Das Gleiche gilt für Staatsanwälte. Sie werden gefeiert, solange sie Mafiosi verhaften. Wenn sie sich aber an einem Politiker vergreifen, der mit der Mafia zusammenarbeitet, ist ihre Karriere zu Ende – im günstigsten Fall.
In Palermo läuft zurzeit der Prozess der sogenannten Trattativa: ein Prozess, der klären soll, ob Politiker und hochrangige Staatsbeamte Anfang der neunziger Jahre mit der Mafia verhandelten – und die beiden Antimafia-Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino möglicherweise opferten, weil deren Ermittlungen diese Verhandlungen störten. Seit Prozessbeginn werden die prozessführenden Staatsanwälte massiv bedroht. Der Boss Totò Riina rief sogar aus dem Gefängnis zum Mord am Chefermittler Nino Di Matteo auf. Seitdem besteht Di Matteos Leibwache aus 42 Carabinieri: Neun, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, dreiunddreißig, die sein Haus bewachen und die Straßen in Palermo kontrollieren, auf denen der Staatsanwalt mit drei gepanzerten Limousinen unterwegs ist. Ein abtrünniger Mafioso enthüllte vor kurzem, dass die Vorbereitungen für das Attentat bereits ganz konkret sind: Er selbst habe 150 Kilo Sprengstoff für das Attentat an Nino Di Matteo besorgt.
■ ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie lebt seit 1991 in Venedig und recherchiert über die Mafia (mehr auf Seite 36). 2014 erschien ihr erster Roman – über eine Anti-Mafia-Staatsanwältin: „Palermo Connection – Serena Vitale ermittelt“.
Sinn der mafiosen Drohungen ist, dem italienischen Staat eine Lehre zu erteilen und dafür zu sorgen, dass die Beteiligten an der Trattativa weiterhin schweigen – was bestens funktioniert. Von den italienischen Politikern kam kein Wort der Solidarität für Nino Di Matteo, keine Anteilnahme, nichts. Der redselige Ministerpräsident Matteo Renzi hat einen winzigen Tweet für den bedrohten Staatsanwalt übrig, und der ehemalige Staatspräsident Napolitano erwirkte, dass Tonbänder gelöscht wurden, die ein Gespräch zwischen ihm und einem wegen Zusammenarbeit mit der Mafia unter Anklage stehenden ehemaligen Innenminister dokumentierten, in dem es vermutlich um die Zusammenarbeit zwischen Staat und Mafia ging.
Jetzt könnte man sagen: Gott sei Dank sind wir in Deutschland noch nicht so tief gesunken. Schließlich gab es hier noch keinen Prozess gegen einen Politiker, dem vorgeworfen wurde, mit der Mafia zusammenzuarbeiten! Sicher, die Mafia hat in Italien einen enormen Entwicklungsvorsprung, dort existiert sie seit 160 Jahren, in Deutschland erst seit vierzig Jahren. Und, ja, vielleicht sind die deutschen Politiker tatsächlich so sauber und edelmütig, wie wir sie uns wünschen. Vielleicht mag aber auch eine Rolle spielen, dass die deutschen Staatsanwälte im Unterschied zu den italienischen weisungsgebunden sind: Justizminister und Regierungsmitglieder, kurz: die Politik, kann Einfluss auf die Strafverfolgung nehmen. Eines betrifft jedoch Deutschland genau wie Italien: Ein Gerichtsurteil kann die moralische Verantwortung des Einzelnen nicht ersetzen. Ein Politiker, der Kontakte zu Bossen pflegt, ist nicht deshalb anständig, nur weil gegen ihn noch kein Urteil vorliegt.
Die Mafia existiert also nur so lange, wie die Guten, Anständigen, Rechtschaffenen mit ihr zusammenarbeiten. Nicht die Geheimniskrämerei, nicht die Verschwiegenheit, nicht die Gewalt garantieren der Mafia ihr Überleben, sondern Verdrängung, Heuchelei und: Unwissenheit. Deshalb ist auch die Mafiafolklore bis heute so beliebt. Solange die Märchen von den Ehrenmännern erzählt werden, die keine Kinder und keine Frauen ermorden, tut das niemandem weh. Die frommen Phrasen vom Erzengel Michael und vom angekokelten Heiligenbild sind schon lange kein Geheimnis mehr, und die Mafiosi sind dankbar, wenn Journalisten es übernehmen, die aus Rosenkranz-Beten, buddhistischem Mantra und dem Gelassenheitsgebet anonymer Alkoholiker zusammengerührten Aufnahmerituale zu verklären.
Aber das eigentlich Spannende bei der Beschreibung der Mafia sind die Lügen der Guten, Anständigen und Rechtschaffenen. Ihre moralische Fallhöhe. Diesen Lügen kommt man mit den Mitteln der Literatur besser bei als mit denen der investigativen Reporter. Deshalb schreibe ich jetzt Romane.
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