Der Untergang von Karl & Rosa

Das Schild hängt noch da, doch seit einem Jahr steht die Kneipe leer, die eine Heimat für Linke aller Schattierungen in Hamburg-Ottensen war. Vor der Theke prallten bürgerliche und marxistische Positionen aufeinander, während sich im Nebenzimmer der Sado-Maso-Stammtisch traf. Ein Nachruf

An der Theke diskutierten die Stammgäste mit Ingrid über die „Hartz IV-Scheiße“, von der sie teilweise selbst betroffen waren Die Stammgäste des Karl & Rosa haben sich verstreut, manche sieht man gelegentlich in den hippen Cafés von Ottensen sitzen

VON DANIEL WIESE

Am 24. Dezember vor einem Jahr war das „Karl & Rosa“ noch offen. Ich ging nachmittags am Fenster vorbei, das nur schwach erleuchtet war, und sah drinnen den Wirt Uli in ungewohntem Dämmerlicht sitzen. Vor sich auf dem Tisch hatte er eine Kerze angezündet, was komisch wirkte, denn Uli betrachtete die Verhältnisse vom Standpunkt des Klassenkampfes aus und war Weihnachten gegenüber eher feindlich eingestellt, so hatte ich jedenfalls gedacht, aber man kann sich täuschen. Warum sollte ein Marxist keine Kerze zu Weihnachten anzünden? Mit wem Uli am Tisch saß, konnte ich nicht erkennen. Ich hatte es eilig und winkte ihm zu, und er machte noch so ein Zeichen wie „Wir haben auf, komm doch die Tage vorbei“.

Es kam dann doch nicht dazu, und als ich im Januar wieder an dem Fenster vorbeikam, war es drinnen dunkel, und an der Fensterscheibe hing eine ironisch formulierte Nachricht: „Wir sehen uns leider außerstande, die für ein Objekt in dieser Top-Lage ‚äußerst günstige Miete‘ weiter zu bezahlen“, stand da, und dass man habe schließen müssen. Bald war auch dieser Zettel verschwunden, seitdem hängt im Fenster von Karl & Rosa eine Annonce: „Restaurant zu mieten – Inventarkauf“, darunter die Telefonnummer einer Immobilienverwaltung.

Das Karl & Rosa, am türkischen Rand des Hamburger Stadtteils Ottensen gelegen, war keiner der Orte, die rund um die Uhr mit jungen Menschen bevölkert sind, die Latte Macchiato trinken und ihre Laptops vor sich aufstellen. Aber es war gegen Abend meist gut besucht. Als Erstes waren immer die runden Bartische im vorderen Teil bei der Theke belegt, weil man von da sehr gut auf Zuruf bestellen konnte, dann kam der hintere Raum, zu dem einige Stufen hinaufführen, und zuletzt das Nebenzimmer. Im Nebenzimmer fanden seltsame Treffen statt, wichtig auftretende Gewerkschaftsfunktionäre eilten hinein, manchmal wurde Sekt bestellt oder „bitte eine Runde Linsensuppe für alle“. Einmal im Jahr trafen sich dort die transsexuellen VolleyballerInnen nach einem Turnier, das irgendwo in der Gegend stattfand, und alle zwei Wochen war Sado-Maso-Stammtisch. Die Sado-Maso-Leute wirkten vom Typ her eher wie schüchterne Bankangestellte. Einmal, als sie im Sommer draußen an einen der Tische saßen, die auf dem Bürgersteig vor dem Karl & Rosa aufgestellt waren, zeigten sie die neuen Handfesseln aus Plastik herum, wie sie auch die Polizei verwendet, und unterhielten sich über die Vorteile. „Da fällt man in der S-Bahn nicht mehr so auf“, sagte einer von ihnen, die Handschellen hätten im Rucksack doch ziemlich geklappert.

Manchmal sah man im Karl & Rosa auch die Schauspielerin Hannelore Hoger, die immer schnell durch den vorderen Thekenraum in eine der Ecken im hinteren Teil eilte, ihr Gesichtsausdruck sagte: „Ja, ich bin Hannelore Hoger, warum glotzt ihr so, noch nie eine Schauspielerin gesehen?“, selbst wenn da gar niemand war, der glotzte. Aber man kann das verstehen, so als Promi immer angestarrt zu werden ist nicht schön.

An dem Abend, an dem ich Uli, dem Wirt, zum ersten Mal begegnete, war die Luft merkwürdig lau, trotzdem saßen alle drinnen und rauchten und hingen ihren Gedanken nach, als es am Tresen plötzlich laut wurde. „Du hast doch keine Ahnung!“, rief Uli seinem Nebensitzer zu, der sich duckte. „Weißt du überhaupt, wer Glenn Gould ist?“ – „Klar, weiß ich“, sagte der andere, aber es war klar, dass er die Diskussion nicht gewinnen konnte.

Uli überragte die meisten seiner Gäste um einen Kopf, und seine Augen funkelten kampfeslustig. Früher hatte er mal geboxt, irgendwann ein Jurastudium abgebrochen und dann „politische Ökonomie studiert“, wie er sagte. Uli hatte Marx und Hegel gelesen und wahrscheinlich auch Lenin und Engels und Trotzki, denn er war nicht der Mann, der sich mit halben Sachen zufrieden gab. Einmal im Monat traf er sich mit seiner politischen Diskussionsgruppe, da war er vorher nicht ansprechbar, und Ingrid, die Wirtin, mit der er zusammen das Karl & Rosa betrieb, musste den Laden alleine schmeißen.

Bevor ich Uli kennen lernte, hatte ich immer gedacht, ich sei irgendwie „links“, aber der Zahn wurde mir im Laufe der abendlichen Sitzungen im Karl & Rosa gezogen. „Weißt du“, sagte Uli, „ich finde es ja okay, dass du so denkst, aber du argumentierst von einem moralischen Standpunkt aus.“ Moralische Empörung, erklärte Uli, ersetze aber noch keine politische Analyse, im Grunde sei meine Haltung eine bürgerlich beschränkte, da könnte ich mich so international gebärden, wie ich wolle. So genannte Linke wie ich wollten am Ende doch nur ein besseres Deutschland, darauf laufe es immer hinaus, das Problem sei aber gerade der deutsche wie überhaupt jeder Staat. Ohne eine Analyse der Herrschaftsverhältnisse gehe es eben nicht, darauf wolle er nur mal hinweisen.

An der Theke diskutierten die Stammgäste mit Ingrid über die „Hartz IV-Scheiße“, von der sie teilweise selbst betroffen waren. Uli regte sich darüber auch auf, aber er dachte in größeren Zusammenhängen. Im Bücherregal an der Wand lag neben der taz und konkret, deren Ansichten Uli eher weniger teilte, der Gegenstandpunkt aus, eine Publikation der ehemaligen „Marxistischen Gruppe“, die sich irgendwann mal aufgelöst hatte, aber diese Zeitschrift gab es immer noch. Wenn Leute aus der Linkspartei ins Karl & Rosa kamen, bekam Uli gelegentlich die Krise wegen der mangelnden theoretischen Durchdringung ihrer Forderungen. „Jetzt muss ich doch mal was fragen“, sagte er dann und hielt ihnen ihr neuestes Flugblatt hin, dass sie eben in dem Glauben, auf befreundetem Gebiet zu sein, ausgelegt hatten. „Meint ihr das wirklich ernst?“, und schon war die schönste Diskussion im Gange.

Wenn Uli redete, holte er sich meistens ein Glas Wein und setzte sich kurz hin, bevor er wieder weg musste, bedienen oder Thekendienst schieben. Noch lieber als über Politik, von der er sprechen musste, aber, so schien es, gar nicht immer sprechen wollte, sprach er über Glenn Gould oder Johnny Cash, von dem er alle Aufnahmen kannte, selbst solche, die in Deutschland gar nicht zu bekommen waren. Manchmal, wenn es sehr spät wurde, legte er seine Tapes auf, dann war im Karl & Rosa Musikstunde. Uli hatte selbst in zahllosen Bands gespielt, er trat gelegentlich auf linken Veranstaltungen mit Liedern von Rio Reiser auf, „ich stümpere ja nur rum“, winkte er ab, aber es bedeutete ihm viel. Wenn Juri, der traurige Trompeter, ins Karl & Rosa kam, war klar, dass er seinen Auftritt bekam, die Musik wurde ausgestellt, und Juri, der merkte, dass man seine Kunst schätzte, strengte sich im Karl & Rosa immer besonders an. Irgendwann verpflichtete Uli ihn für eines seiner Bandprojekte, sie probten zusammen und hatten sogar einen Auftritt, aber dann musste Juri nach Litauen, und als er zurückkam, erschüttert von der Situation, die er vorgefunden hatte, hatte die Band sich schon in eine andere Richtung entwickelt.

Das Karl & Rosa wirkte auf uns Gäste wie eine Kneipe, die gut läuft. Manchmal ging man nur hin, um schnell eine der Frikadellen für 2,50 Euro zu essen, die der geniale jüdische Koch zubereitet hatte, der sich standhaft weigerte, koscher zu kochen, was ihm einmal scharfe Kritik von einer anwesenden Jüdin eintrug, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Von den Zahlen hatten wir Gäste ja keine Ahnung, und manchmal frage ich mich, wie Uli das Ende seiner Kneipe wohl analysiert. Wahrscheinlich würde er sagen, dass gegen Profitmaximierung nichts einzuwenden ist, Selbstmitleid ist nicht sein Ding. Zur Profitmaximierung würde allerdings gehören, dass die Kneipe zu einem höheren Preis weitervermietet worden wäre. Mangels Mieter kann davon jedoch keine Rede sein.

Ein Jahr hängt jetzt schon die Nummer der Immobilienverwaltung im Fenster des Karl & Rosa, und wenn man das Gesicht an die Scheibe drückt und ganz genau hineinschaut, sieht man noch Gläser auf dem Tresen stehen und Barhocker, die aussehen, als hätte sie gerade jemand weggerückt, der morgen wiederkommen wird. Uli sieht man manchmal gebeugt durch die Straßen fahren, auf seinem alten Fahrrad, er hat es meistens eilig. Eine neue Kneipe hat er nicht wieder aufgemacht. Die Stammgäste des Karl & Rosa haben sich verstreut, manche von ihnen sieht man gelegentlich in den hippen Cafés von Ottensen sitzen, wo sie zwischen den smarten Medien- und Agenturmenschen irgendwie deplatziert wirken.

Wie zum Hohn hängt noch immer das Schild mit der Aufschrift „Karl & Rosa“ über dem verschlossenen Eingang der Kneipe, keiner hat es bisher abgenommen. Es hängt dort wie ein Versprechen. Doch das Karl & Rosa wird es nie mehr geben.