berliner szenen Wörter wachsen

Neujahr (reloaded)

Gegen Morgen war ich schlafen gegangen, gegen Mittag noch einmal auf die Party zurückgekommen. Zwischendrin hatte plötzlich der Winter begonnen. Wieder dauerte es lange, den kleinen Raum zu finden; immer noch verlief man sich ständig, und nur in diesem kleinen, unaufdringlich gestalteten Raum – aus irgendeinem Grund assoziierte ich das England von Alice im Wunderland, aber wahrscheinlich meinte ich Harry Potter – konnte man sich ein bisschen besinnen und träumen; in einem leichten, durch das Biohoch abgefederten Rausch. Ich stand an der Bar zwischen Leuten und dachte, wie klasse es doch ist, gleich nach dem Frühstück ein Bier zu trinken und zu rauchen.

Ein Mädchen, Anfang zwanzig, sagte, sie hätte in den Laberflashs der letzten Stunden all ihre Worte verbraucht und wisse nun nicht mehr weiter. Sie sprach sehr bildlich darüber, sodass man sich das gut vorstellen konnte: die begrenzte Zahl der Wörter und ihre begrenzte Haltbarkeit und Verwendbarkeit in diesen oder jenen Zusammenhängen. Und wie diese Wörter plötzlich, in der aufgekratzten Erschöpfung des Nachmittags, nach intensivstem Dauerreden, eben nichts mehr bedeuteten. Sie hatte ihre Worte ausgegeben oder aufgegessen, die Worte waren wie Pflanzen gewesen, die sie ausgerissen hatte. Aber trotzdem wollte sie unbedingt über irgendetwas diskutieren.

„Aber worüber willst du diskutieren?“ – „Keine Ahnung. Deshalb frag ich dich ja.“

Wir standen im Gedrängel an der Bar. Mir fiel nichts ein, worüber man hätte diskutieren können. So sagte ich ihr nur, sie solle sich nicht sorgen und dass die verbrauchten Worte, wie die Erfahrung lehrt, in ein paar Tagen wieder nachgewachsen sein werden. DETLEF KUHLBRODT