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Archiv-Artikel

Kinderrechte ins Grundgesetz

Kinder müssen auch in Deutschland endlich ihre Rechte einklagen können. Damit würde die Machtbalance zwischen Eltern, Nachwuchs und Staat in der Verfassung hergestellt

Wie bei der Gleichstellung der Frauen wird die Veränderung auf leisen Sohlen kommen

Kinderrechte ins Grundgesetz – das bringt doch nichts. Kinder sind Menschen, und alle Menschen haben Grundrechte, also sind auch die Kinder vom Grundgesetz geschützt. Dieses und ähnliche Argumente gegen die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung hört und liest man nun seit mehr als 15 Jahren. So alt ist die Diskussion um eine Änderung des Grundgesetzes. Dass sie nun wieder hochkocht, liegt an der Häufung grausamer Kinderrechtsverletzungen: brutale Gewalt bis hin zum Mord, wie in Darry, Schwerin oder Bremen.

Die SPD nutzte die Gunst der politischen Stunde und sattelte, als die Kinderschutzdebatte in Fahrt gekommen war, die Grundgesetzdebatte oben drauf. Es ist möglich, dass die wohlmeinenden Sozialdemokraten ihrem Anliegen damit einen Bärendienst erwiesen haben, denn seither steht nur noch der Schutz der Kinder im Vordergrund, nicht aber der gesamte Kinderrechtekatalog, der auch die Förderung und die Beteiligung von Kindern enthält. Im Schlagabtausch mit der Union und anderen Konservativen haben sich dann die parteitaktischen Halbwahrheiten unschön gepaart mit einer gewissen Geschichtsvergessenheit. Die Debatte bedarf deshalb einiger Klarstellungen.

Erstens hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, indem sie 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert hat. Dort steht, die „Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“. Welche Gesetzgebungsmaßnahme könnte besser geeignet sein, die Kinderrechte in Deutschland endlich auf feste Füße zu stellen, als eine Anpassung des Grundgesetzes? Kein Gesetzgeber, kein Jugendamt, kein Familienrichter könnte hinter eine solche Linie zurück. Und: Kinderrechte wären ab sofort einklagbar.

Das wäre neu, denn bislang wird die Konvention in Deutschland nicht unmittelbar angewendet. Die schwarz-gelbe Regierung stellte bei der Ratifizierung 1992 fest, dass „das Übereinkommen innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung findet“. Die Konvention sei, so spricht es aus dem Vorbehalt, vor allem für die Verbesserung der Situation in Entwicklungsländern gedacht. In Deutschland stehe es gut um die Kinderrechte.

Der Vorbehalt gilt heute noch. Aber steht es auch gut um die Rechte des Kindes? Daran sind gerade in den letzten Monaten berechtigte Zweifel geäußert worden. Die Kinderarmut hat drastisch zugenommen, 2,6 Millionen Kinder leben heute von Sozialhilfe. Kinder ohne deutschen Pass sind vielfach benachteiligt. In manchen Bundesländern unterliegen „geduldete“ Flüchtlingskinder nicht einmal der Schulpflicht. Jedes Jahr werden rund 150.000 Kinder unter 15 Jahren von ihren Eltern körperlich misshandelt. Sie könnten ihr Recht auf eine gewaltfreie Erziehung leichter verwirklichen, wenn sie selbst Rechte hätten; wenn Kinder nicht nur die Objekte der elterlichen, vom Staat überwachten Erziehungsgewalt wären. Derzeit steht dazu im Grundgesetz in Artikel 6 nur: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Die nötige Balance aus Elternrechten, Kinderrechten und Staatspflichten würde mit einer Grundgesetzänderung erst hergestellt werden. Bislang sind die Kinder nur Zuschauer. Und Leidtragende.

Die Kritik aus konservativen Kreisen an einer Grundgesetzänderung ist auch deshalb so schrill, weil sie in einer Änderung des Artikels 6 Grundgesetz die Demontage der hierarchisch geordneten Familie wittern. Dass Erziehung im Einklang mit den Kinderrechten stehen muss, kommt diesen Gegnern entweder nicht in den Sinn oder nicht gelegen.

Zweitens: Kinder haben nicht dieselben Rechte wie volljährige Menschen. Spätestens seit der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention vor 18 Jahren sollte klar geworden sein: Kinder befinden sich in einer besonderen Lebensphase, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Sie haben eigene Rechte, zum Beispiel das Grundrecht auf Förderung, auf Bildung.

Aber die Unterschiede gehen noch viel weiter: Kinder dürfen zum Beispiel nicht wählen und sind nicht wählbar. Ihnen fehlen wesentliche Rechte der Beteiligung am öffentlichen und politischen Leben. Die Kinderrechtskonvention gleicht diesen Mangel in Artikel 12 wenigstens teilweise aus: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Doch die Konvention findet, wie gesagt, in Deutschland keine unmittelbare Anwendung.

Drittens: Ja, eine Grundgesetzänderung verändert die Republik. Die Verfassung ist der Boden des politischen Handelns in diesem Land. Alle Bürger, alle Behörden und natürlich alle Verfassungsorgane müssen sich ans Grundgesetz halten. Von der Herstellung eines Druckerzeugnisses über die Landesgesetze bis zur Stadtteilsanierung – alles muss mit dem Geist dieses Gesetzes im Einklang stehen. Der oft gesuchte Vergleich der Kinderrechte mit dem Tier- und Umweltschutz hinkt daher etwas. Diese sind als Staatsziele aufgenommen worden, und damit als ferne Ideale und vage Leitmotive staatlichen Handelns, die mit anderen Zielen, zum Beispiel wirtschaftlichen, heftig kollidieren können.

Bei der Debatte um die Verankerung von Kinderrechten geht es aber um den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Grundrechte sind im Gegensatz zu Staatszielen mit einem klaren Rechtsträger verbunden. Diese Rechtsträger oder „Rechtssubjekte“, zu denen Kinder in Deutschland vielleicht einmal werden, können individuell ihre Grundrechte am Bundesverfassungsgericht geltend machen.

Kein Gesetzgeber, kein Jugendamt, kein Familienrichter könnte hinter eine solche Linie zurück

Selbstverständlich wäre es naiv, anzunehmen, dass die Republik nun plötzlich Spielplätze statt Straßen baut, Kinderbetreuung am Arbeitsplatz verpflichtend macht oder aggressive Schokoriegelwerbung verbietet, nur weil Kinderrechte im Grundgesetz stehen. Doch wie bei der grundgesetzlichen Gleichstellung der Frau vor mehr als fünfzig Jahren wird auch in diesem Fall die Veränderung auf leisen Sohlen kommen. Zum Beispiel beim Rechtsstreit über „Lärm“ auf Kinderspielplätzen. Viele Gerichte berufen sich bei der Urteilsfindung lediglich auf die „TA-Lärm“, welche die Messung von Lärm in Dezibel vorsieht, nicht aber auf das Wohl der Kinder. Wenn der Dezibelwert über der erlaubten Grenze liegt, muss der Spielplatz geschlossen werden. Das Beispiel verdeutlicht, dass Richter allzu oft das Wohl des Kindes nicht als Bezugspunkt ihrer Urteile anwenden können. Dafür fehlt ihnen heute noch die gesetzliche Grundlage. Es ist Zeit, sie ihnen zu schaffen.

SEBASTIAN SEDLMAYR

Fotohinweis:Sebastian Sedlmayr, 33, ist Referent für Kinderrechte und Kampagnen bei Unicef Deutschland. Vorher hat er sechs Jahre lang für die taz vor allem in NRW gearbeitet und Politik, Philosophie und Ethnologie studiert.