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Archiv-Artikel

Das Gegenkonzept zur Agrarindustrie

Von Monokulturen, Gentechnik und chemischem Dünger halten die Verfechter der „Ernährungssouveränität“ nichts. Ihr Ansatz: Kleinbauern erzeugen Lebensmittel auf nachhaltige Weise in erster Linie für sich selbst und ihr Umfeld

ABC DER ALTERNATIVEN

„Eine andere Welt ist möglich“, behaupten soziale Bewegungen seit Jahren. Doch welche gesellschaftlichen Alternativen existieren tatsächlich? Antworten gibt das „Abc der Alternativen“: In dem Buch, das der VSA-Verlag in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der taz und dem wissenschaftlichen Beirat von Attac herausgibt, stellen 133 Autorinnen und Autoren einzelne Stichworte vor – von „Ästhetik des Widerstands“ bis „Ziviler Ungehorsam“. Die taz dokumentiert einzelne, leicht gekürzte Texte. Das Buch ist für 12 Euro im taz-Shop erhältlich.

Der Begriff „Ernährungssouveränität“ wird erstmals 1996 erwähnt: Anlässlich des Welternährungsgipfels der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) formulierten Bauern- und Nichtregierungsorganisationen die Erklärung „Profit für wenige oder Nahrung für alle“. Vor allem die internationale Organisation La Via Campesina („Der bäuerliche Weg“) entwickelt die Ernährungssouveränität als Gegenkonzept zur industrialisierten und exportorientierten Landwirtschaft.

„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und transnationalen Konzerne“, heißt es in „Nyeleni – Deklaration für Ernährungssouveränität“, die im Februar 2007 in Mali beim 1. Internationalen Forum zur Ernährungssouveränität verabschiedet wurde.

Im Gegensatz zur Ernährungssicherheit, die auch mit grüner Gentechnik erreicht werden soll, auf Ertragsquantität und finanzielle Verwertung fokussiert, umfasst die Ernährungssouveränität auch Produktionsbedingungen und ungleiche Tauschbedingungen auf internationaler Ebene.

Verfechter der Ernährungssouveränität sehen ihre Märkte durch Billigimporte zerstört. Die Privatisierung von Ressourcen gräbt ihnen buchstäblich das Wasser ab, wegen internationaler Patentrechtsabkommen dürfen sie nicht mehr ihr eigenes Saatgut verwenden. Stattdessen melden Biotechnologiekonzerne immer wieder neue Patente auf Pflanzen an, deren genetischer Code dann sprichwörtlich in ihr „Eigentum“ übergeht.

Ernährungssouveränität bewertet auch den jüngsten Boom der so genannten „Bio“-Energie nicht als Chance, sondern als Bedrohung für die bäuerliche Existenz und eine menschenwürdige Ernährung, denn die Energiepflanzen werden in großflächigen Monokulturen angebaut. Ernährungssouveränität ist auch ein Gegenbegriff zur „Grünen Revolution“, die in den 1960er- und 1970er-Jahren mithilfe von Kunstdünger, Pestiziden und Herbiziden kurzfristige Produktionssteigerungen erzielte, dann aber wegen Schädlingsresistenzen, vergifteten Böden und Grundwasser ihre zerstörerische Wirkung entfaltete. Diese Schäden und die Folgekosten werden in den Kalkulationen der Agrarindustrie der Allgemeinheit in Rechnung gestellt. Auf Ernährungssouveränität zielende Praktiken streben eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen an. Schließlich werden in ihrem Leitbild die Interessen von abhängig Beschäftigten berücksichtigt und für LandarbeiterInnen „gerechte Löhne“ und „annehmbare Arbeit“ gefordert.

Weit mehr als 1 Milliarde Menschen leben weltweit als KleinbäuerInnen oder LandarbeiterInnen. Die industrialisierte Landwirtschaft raubt ihnen die Lebensgrundlage und treibt sie in die Städte. Da die Praktiken der Ernährungssouveränität die noch bestehenden bäuerlichen Versorgungsstrukturen stärken, stellen sie auch eine Option für Slumbewohner dar. Die brasilianische Landlosenbewegung MST etwa führt Landbesetzungen – oft in Randbezirken von Großstädten – auch mit SlumbewohnerInnen durch, um dort anschließend Landwirtschaft zu betreiben. GERHARD KLAS