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Archiv-Artikel

Das Theater, das mehr sein will

Lothar Trolle ist ein vielleicht verkannter Theaterautor, Corinna Harfouch will das ändern: Bei einer Lesung im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow improvisierte sie Stückchen aus Trolles „Gesammelten Werken“

Corinna Harfouch sticht in einen Kopf. Mit einem großen Messer. Es ist ein Styroporkopf. Sie sticht tief, klettert auf den Schreibtisch, der vor ihr steht, und hält den Kopf mit ihren Stiefeln. Das aber ist nicht Teil des Abendprogramms. Vielmehr ordnet die Schauspielerin ihre Requisiten.

Dieser Donnerstagabend im Betsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow soll ein Abend zugunsten von Lothar Trolle sein. Das Buch mit seinen „Gesammelten Werken“, das unter dem Titel „Nach der Sintflut“ erschienen ist, wird vorgestellt. Doch Trolle liest nicht, es liest Corinna Harfouch, die bald die Regie des Abends übernimmt. Axel Schalk hatte eine knappe Einführung in Trolles Werk gegeben und dabei einen Ausspruch Trolles zitiert, dass er da, wo er nicht von der Theaterbühne eingegrenzt sei, viel mehr Raum für seinen Text habe. Das muss die Schauspielerin sofort kommentieren. Dieser Satz nämlich, so sagt sie, sei durchaus auch als resignierte Mitteilung zu verstehen, denn die Bühne grenze Trolle nicht ein, einfach weil er zu selten gespielt werde.

Lothar Trolle, der an diesem Abend zu Harfouchs Zuhörern gehört, ist trotz seiner knapp 63 Jahre noch immer eher ein Geheimtipp als ein Theaterstar. Dabei hat er einen guten Leumund, Frank Castorf schätzt ihn, er hat mit Thomas Brasch zusammengearbeitet, Heiner Müller schrieb zu seinem 50. Geburtstag: „Lothar Trolle ist eine Figur aus einem Text von Lothar Trolle. Sein bürgerlicher Name lautet Kaspar Hauser. Von seinem Namensvetter hat er den fremden Blick auf die Wiederkehr des Gleichen in der Tretmühle des Alltags und die Ahnung von einem endgültigen Schrecken, der seine Clownerien schwarz grundiert. Im Übrigen gleicht er nur sich selber, kratzen Staats- und Sonnenuntergänge nicht an seiner Identität, glaubt er im Gegensatz zu Herrn Keuner nicht an Rolltreppen und Regenschirme und weicht Gesprächen über Bäume nicht aus.“

Trolle ist der letzte Brechtianer, der seinen Brecht zunächst bei Heiner Müller gelernt hat, und sich dann aber auch wieder alles selbst beigebracht hat. Selbst kleinsten Fragmenten des Autors merkt man den Leser Trolle an. Das Buch, dass nur eine Auswahl, aber eine große Auswahl von Werken enthält, ist 600 Seiten stark. Die Texte passen oft in kein Schema, sind nicht Gedicht, nicht Kurzgeschichte und nicht Stück. Alle Texte verbindet, die für die Theaterschule der DDR so unabdingliche Traditionsverbundenheit zu demonstrieren und doch zugleich stets über das Theater hinauszuweisen. „Weil mich das Theater interessiert, kann ich es eigentlich immer nur in Frage stellen“, sagt Trolle.

Corinna Harfouch nun hatte sich die schwere Aufgabe gestellt, das Stückchen „Szenen einer Lady“ mit Hilfe des Styroporkopfs zu geben, und scheiterte daran mit Bravour. Schnell wandte sie sich dem Prosatext „Der Kirschkern“ zu, den sie, zunächst noch außer Atem, las, von ihm aus dann glitt sie in einen kurzen Dialog aus Trolles Stück „Die 81 Min. des Fräulein A.“, dessen beide Rollen sie in schönstem Sächsisch knatterte. Hier war das Publikum endlich mit der Schauspielerin und ihrer Inszenierung versöhnt, denn es war ein knapper, derber Dialog aus dem Leben, eine lustige Straßenszene.

Danach jedoch war der Abend nicht vorbei, sondern begann im Grunde erst – die Harfouch, nun zu großer Form aufgelaufen, verteilte Likör, Wodka und Sekt ans Publikum, das sie ganz selbstverständlich und unaufdringlich duzte, damit es sich „entspannt“, brachte einen Toast auf den Autor aus, einen „der größten lebenden Autoren“, der zwar weithin verkannt sei, „aber das werden wir auch noch ändern“.

Danach las und inszenierte sie zugleich mit den zugehörigen Geräuschen „Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz oder Requiem auf einen Jungen, der nicht Rad fahren lernte“ – ein Hörstück über einen jüdischen Jungen aus Galizien, der Opfer der Nazis wird. Den letzten, schweren Satz des Stückes ließ sie in einem langen Schweigen enden, und das Publikum schwieg, ganz ergriffen, mit ihr. Der Veranstaltungsort, ehemals Jüdisches Waisenhaus, den die Nazis dauerhaft zu einem Unort gemacht haben, tat ein Übriges. Erst als sie flüsterte: „Das war’s“, konnte der lange Applaus für sie und Lothar Trolle ausbrechen.

JÖRG SUNDERMEIER

Lothar Trolle: „Nach der Sintflut. Gesammelte Werke“. Alexander Verlag, Berlin 2007, 606 Seiten, 29,90 €