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Archiv-Artikel

Einladung zum Aufstiegskampf

Ungeheuerliche Dynamik zwischen Vater und Sohn: „Charakter“ von Ferdinand Bordewijk

VON ANTJE KORSMEIER

Fördern durch Fordern“ ist gegenwärtig ein beliebter Slogan. Man stellt sich das Fordern dann als strenges, aber maßvolles Austesten der Fähigkeiten und Grenzen eines Schützlings vor. Dass dieses Szenario aber auch vollkommen anders ablaufen kann, schildert Ferdinand Bordewijk in seinem 1938 verfassten Roman „Charakter. Roman von Sohn und Vater“, den der Beck Verlag vor Kurzem neu entdeckt hat. In den Niederlanden als einer der großen Autoren der literarischen Moderne gefeiert, gilt der Autor und Jurist Bordewijk (1884–1965) hierzulande immer noch als ein Geheimtipp. Er erzählt eine Geschichte, in der das väterliche „Fördern“ des Sohnes zu einer komplexen Form von Schikane gerät.

Jacob Katadreuffe hat es nicht leicht. Der uneheliche Sohn des Gerichtsvollziehers Dreverhaven und dessen Dienstmädchen Joba wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter in Rotterdam auf. Beide, Mutter und Sohn, kennen nur ein Ziel im Leben: voranzukommen. Als der ehrgeizige junge Mann mit einem Zigarrenladen in Den Haag scheitert, muss er zum Konkursverwalter. Doch damit eröffnet sich ihm unverhofft eine neue Welt, die Welt der Büros, des Handels und der Gerichte: „Da erwachte etwas in Katadreuffe. Nein, er wollte kein kleiner Krämer werden, was er wollte, war das dort.“

Die renommierte Großkanzlei stellt den jungen Mann tatsächlich als Schreibkraft ein. Zudem begegnet Katadreuffe dort zum ersten Mal seinem Vater, dem weithin gefürchteten und verhassten Gerichtsvollzieher, „ein[em] Mann aus Granit, der nur im anatomischen Sinne ein Herz besaß“. Während Katadreuffe glaubt, Ekel gegenüber diesem „Bluthund“ zu empfinden, belehrt der allwissende Erzähler die Leser eines Besseren: „Er begriff nicht, [...] dass er eigentlich dachte: Der mein Vater? Was für ein Kerl, was für ein Mann!“

Von da an setzt eine ungeheuerliche Dynamik zwischen den beiden ein: Der Sohn lernt unentwegt, arbeitet hart, studiert Jura und steigt in der Kanzlei auf; der Vater, nebenbei als Wucherer tätig, entpuppt sich als Geldgeber des Projektes in Den Haag. In dem Moment, als Katadreuffe Erfolg hat, fordert Dreverhaven unerbittlich die alte Schuld ein: „Hier geht es nicht um Vater und Sohn. Du bist ein Schuldner. Wenn du nicht bezahlst, kannst Du gehen.“ So entfaltet sich wiederholt ein zähes Ringen, bei dem Ehrgeiz und Starrsinn, Gefühlskälte, gegenseitiger Neid und Stolz ineinander übergehen.

Mithin eine Variante des klassischen Generationenkonflikts, wenn auch in ungewöhnlich scharfer Form? Auch das. Mindestens ebenso spannend an diesem Buch aber ist die Weise, in der Bordewijk die Aufsteigerthematik mit dem Titelmotiv verbindet. Charakter tritt im Roman hauptsächlich als Willensstärke und als Idee der Entwicklung im Sinne eines „Weiterkommens“ auf. Jede Handlung des zurückhaltend charmanten Katadreuffes ist der Steigerung der eigenen Fähigkeiten und dem gesellschaftlichen Erfolg gewidmet, die Erzählstimme registriert Fortschritte. Bescheidenheit, Disziplin, Fleiß und Bildung werden immer wieder als maßgebliche Werte beschworen. Ihnen fällt sogar Katadreuffes Liebe zu seiner Kollegin Lorna te George zum Opfer, da er seine Empfindungen für sie als „Sünde gegen sich selbst“ versteht.

Sprache, Duktus und Figurenzeichnung des gesamten Romans sind knapp und schnörkellos – Bordewijk wird nicht umsonst der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Diese ein wenig in die Jahre gekommene Modernität ist es jedoch unter anderem, die den Roman so lesenswert macht. Auffallend etwa, wie unpsychologisch dieser Autor bei dieser Thematik vorgeht. Mit der heute geläufigen Form der Ich-Erzählung, die das Aushorchen und Registrieren von Befindlichkeiten an oberste Stelle setzt, hat das wenig zu tun. Aber Bordewijk gelingt es auch ohne psychologische Verästelungen, kurz und treffend etwa die Komplexität des Verhältnisses von Katadreuffe zu seiner Mutter plausibel zu machen oder am Ende die glatte Gegnerschaft zwischen Vater und Sohn infrage zu stellen.

Auch der unbedingte Wille des Protagonisten aufzusteigen irritiert mittlerweile. Man kann sein Verhalten zwar als eine Antwort auf die moderne Meritokratie bzw. Leistungsgesellschaft deuten, in der Glück oftmals über Erfolg, und Erfolg über Leistung definiert wird – Katadreuffe macht es vor, indem er seine Liebe für die Karriere aufgibt. Aber richtig sympathisch wird einem dieser Held dadurch nicht, auch wenn der Erzähler positive Charakterzüge hervorhebt und klar wird, dass es kein Egoismus ist, der Katadreuffe antreibt, sondern ein genuin emanzipatorisches Bemühen, das andere Menschen einschließt: „Er war ständig von der Idee besessen, andere voranzubringen, höher hinauf, wie er selbst es wollte.“

Ganz am Schluss heißt es, er wolle „Universalist“ werden, um „über alles mitreden [zu] können“. Damit hätte Katadreuffe doch auch siebzig Jahre später beruflich gute Karten!

Ferdinand Bordewijk: „Charakter“. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Beck Verlag, München 2007, 361 Seiten, 19,90 Euro