: „Musik ist kein Sport“
Nur weil die Hamburger Symphoniker die geringsten Subventionen bekommen, lässt er sich noch lange nicht ans Ende der Orchester-Hierarchie schieben: Jeffrey Tate, der das Orchester ab 2009 dirigieren wird, weiß, dass hier große Potenziale liegen
JEFFREY TATE, 64, Mediziner und Dirigent, leitete von 1991 bis 1995 das Rotterdam Philharmonic Orchestra und ist seit 2005 Chef des Neapolitaner Teatro San Carlo.
taz: Herr Tate, warum haben Sie zunächst Augenchirurgie studiert, wenn Sie doch eigentlich Dirigent werden wollten?
Jeffrey Tate: Das kommt daher, dass ich als Kind viel mit Ärzten zu tun hatte und seither eine Art Bringschuld empfinde. Ich habe den Ärzten viel zu verdanken. Ohne ihre Hilfe säße ich heute im Rollstuhl. Andererseits war ich schon als Kind sehr musikalisch. Ich spielte Klavier, habe Konzerte und Theater geliebt. Aber meine Eltern wollten, dass ich einen sicheren Beruf erlerne. Ich war zwar hoch musikalisch, aber weder ein brillanter Pianist noch ein tauglicher Cellist. Infolgedessen konnte auch mein Musiklehrer meinen Eltern nicht sagen, in welche Richtung mich ein Musikstudium führen könnte. Ich habe also Medizin studiert und war nicht unglücklich dabei. Insgeheim habe ich aber immer daran gezweifelt, dass ich am richtigen Platz wäre. Irgendwann habe ich angefangen, nebenbei als Korepetitor an einer Oper zu arbeiten und – nach zwei Jahren als praktizierender Arzt – diese Laufbahn eingeschlagen. Das heißt nicht, dass ich die Jahre als Arzt als verloren betrachte. Sie haben mir zu einer Perspektive verholfen, die „normale“ Musiker nicht haben.
Welche?
Ich reflektiere sehr viel über die Position, die Musik in der Gesellschaft einnimmt – und darüber, ob wir in einem Konzert etwas Wichtiges vermitteln. Dieser Zugang hängt mit meiner Laufbahn zusammen: Der soziale Status des Arztes ist unangetastet. Er tut etwas sehr Wichtiges. Da könnte man leicht denken, dass Musik nur Dekoration sei. Ich sehe das nicht so. Musik macht die Seele schön. Sie ist für viele Menschen wichtig und lässt besondere Saiten in uns anklingen.
Welche Saiten werden Sie im Konzert der drei großen Hamburger Orchester – NDR-Sinfonieorchester, Philharmoniker und Symphoniker – erklingen lassen? Wollen Sie die Symphoniker vom Ende dieser Hierarchie an ihre Spitze befördern?
Erstens: Musik ist kein Wettbewerb, kein Sport. Zweitens erfüllen diese drei Orchester verschiedene Funktionen: Das NDR-Orchester ist der Klangkörper einer Radioanstalt und künftiges Residenzorchester der Elbphilharmonie. Die Philharmoniker sind ein Opernorchester, und wir ein sinfonisches. Ich möchte, dass wir ausgezeichnete Konzerte geben, und zwar auf demselben Niveau wie die anderen Orchester. In puncto Subventionen stehen wir derzeit allerdings wirklich auf Rang drei. Ich hoffe aber, dass wir das im Laufe der nächsten 18 Monate ändern können. Das politische Wohlwollen ist da. Ob sich auch das Geld findet, wird sich zeigen. Wir müssen das auch durch Qualität verdienen, und das können wir. Es ist ein großer Genuss, mit diesen Musikern zu arbeiten. Sie wollen sich weiterentwickeln. Die Aussicht, ab 2010 – dem Jahr der Eröffnung der Elbphilharmonie – Residenzorchester der Laeiszhalle zu sein, ist ein zusätzlicher Ansporn.
Wie würden Sie den Klang der Symphoniker charakterisieren?
Dieses Orchester hat den tiefen, deutschen Klang des 19. Jahrhunderts, ein etwas altmodisches Timbre, das sich sehr gut für Bruckner eignet.
Also ein pompöser Klang?
Nein, ich meine einen substanziellen, warmen Klang: eher golden als silbern. Sehr rund – und ideal für das klassisch-sinfonische Repertoire, das ich bevorzuge. Außerdem harmoniert das Timbre des Orchesters perfekt mit der Laeiszhalle: eine sehr gute Symbiose. Die Halle verstärkt den tiefen Klang, ohne die Brillanz nach oben hin zu verlieren.
Wie wird das künftige Repertoire der Symphoniker aussehen?
Abgesehen vom klassischen deutschen Repertoire möchte ich englisches Repertoire von Elgar bis heute hinzunehmen. Außerdem interessiert mich französisches Repertoire des 20. Jahrhunderts – Ravel und Debussy etwa. Letzteres ist mir sehr wichtig. Denn für französisches Repertoire muss ich einen speziellen, leichten Klang suchen, den ein modernes sinfonisches Orchester beherrschen sollte. Mich interessiert sehr, wie man ein Orchester mit diesem deutschen Timbre dahin bringt, einen flirrenden Debussy zu spielen.
Weitere Schwächen der Symphoniker, an denen Sie arbeiten wollen?
Wir müssen daran arbeiten, klanglich eine Einheit zu werden. Dafür braucht man zum Beispiel eine einheitliche Streichtechnik. Das kommt vor aller Veränderung des Gesamtklangs. Wir bemühen uns in diesem Punkt sehr. Und die Musiker wollen sich unbedingt verbessern.
Können sie es auch?
Ja. Unter den Symphonikern sind viele begabte Musiker. Wäre es anders, hätte ich dieses Orchester nicht übernommen. Aber ich spüre, dass dieser Klangkörper ein enormes Potenzial hat.
Wer wird der modernste Komponist Ihres Repertoires sein?
Junge Engländer wie Thomas Adès zum Beispiel. Allerdings bin ich kein bekennender Avantgardist. Mich interessiert eher die Klassische Moderne – Witold Lutoslawski etwa. Außerdem reizen mich – neben meinem geliebten Haydn, der viel zu selten gespielt wird – ungewöhnliche Programme. Die Vierte von Lutoslawski und die Vierte von Mahler, die ich einmal zusammen aufgeführt habe, sind so eines.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN