: Landlose besetzen Finca eines Drogenbosses
Brasiliens Landlosenbewegung MST hat sich neue Ziele ausgesucht: konfiszierte Grundstücke von Kokainhändlern
GUAÍBA taz ■ Die geräumige, malerisch auf einer Anhöhe gelegenen Villa samt kleinem Pool ist rundum von saftig grünen Eukalyptusplantagen umgeben. Bis zur asphaltierten Landstraße sind es 17 Kilometer. Am Horizont lässt sich die Skyline der Küstenstadt Porto Alegre im Südosten Brasiliens gut ausmachen.
Seit Montagfrüh ist die Einfahrt zum 129 Hektar großen Anwesen mit roten Fahnen verziert, und um die Villa tollen ärmlich gekleidete Kinder. 500 Mitglieder der „Bewegung der landlosen Landarbeiter“ (MST) halten das Landgut des kolumbianischen Drogenbosses Juan Carlos Ramírez Abadía im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul besetzt.
Nun wurde die „Fazenda Finca“ für umgerechnet 850.000 Euro versteigert. Sie ist eine von zahlreichen Immobilien des 44-jährigen, vor fünf Monaten in São Paulo festgenommenen Drogencapos. Auf 1,8 Milliarden Dollar schätzt das US-Außenministerium das Vermögen von Ramírez alias „Chupeta“ (Lutscher) – als ehemaliger Chef des Norte-del-Valle-Kartells bei Cali ist er ein ganz dicker Fisch.
Der Kokain-Mafioso war in den letzten Tagen mit seinem Versuch in die Schlagzeilen geraten, bei den brasilianischen Behörden eine Auslieferung in die USA zu erwirken – ein in der Branche eher unüblicher Wunsch. „Er hält es im brasilianischen Knast nicht mehr aus“, frohlockte das kolumbianische Wochenmagazin Semana. „Chupeta“ will den Beamten angeblich Hinweise auf Komplizen und Millionen spurlos verschwundener Drogendollars geben. Als ersten Schritt wünscht er sich eine Verlegung in eine andere Haftanstalt.
Nach seiner Verhaftung suchten seine Komplizen in Südbrasilien offenbar überstürzt das Weite. Ihre Verstecke über dem Kamin und in einer holzverkleideten Innenwand ließen sie aufgerissen zurück.
„Mit der Besetzung wollen wir darauf hinweisen, dass im brasilianischen Agrobusiness viel Drogengeld gewaschen wird“, sagt Luciana da Rosa. „Diese Ländereien könnten an die Landlosen verteilt werden.“ Die dunkelblonde 25-Jährige mit der roten MST-Schirmmütze ist eine der SprecherInnen der Besetzer.
Allein in Mato Grosso do Sul, einem notorischen Schmugglerparadies nördlich von Paraguay, beschlagnahmte die brasilianische Justiz im letzten Jahr 85 Landgüter mit einer Gesamtfläche von 385.000 Hektar – weitaus mehr, als Präsident Lula für die Agrarreform zur Verfügung stellte. 2007 haben nur 70.000 Familien ihren eigenen Grund und Boden bekommen, im Vorjahr waren es noch doppelt so viele.
Wegen hoher Weltmarktpreise für Exportprodukte wie Zucker oder Soja sei derzeit eine „Gegenreform“ mit zunehmender Landkonzentration zu beobachten, sagen die MST-Aktivisten. Nach ihren Schätzungen campieren derzeit in ganz Brasilien 150.000 Landlosenfamilien am Straßenrand, im Großraum Porto Alegre sind es 700.
„Ohne öffentlichen Druck läuft nichts“, weiß Luciana, die bereits als Dreijährige in MST-Camps gewohnt hat. „Die Regierung hat versprochen, bis April in Rio Grande do Sul 1.000 Familien anzusiedeln.“
Mit dem Medienecho auf ihre Aktion sind die BesetzerInnen zufrieden. Gestern haben sie beschlossen, ihre Großzelte aus Bambusstauden und schwarzen Plastikplanen wieder abzubauen und in ihre Basiscamps nördlich von Porto Alegre zurückzukehren.
„Die Agraringenieure des Ministeriums haben festgestellt, dass das Grundstück für die Landwirtschaft zu steinig ist“, sagt Luciana und nimmt einen Schluck Matetee aus ihrer Kürbistasse. „Daraufhin haben wir vorgeschlagen, dass hier eine Reha-Klinik für drogenabhängige Jugendliche eingerichtet wird. Auf jeden Fall werden wir darauf achten, dass das Land nicht an die Zellstoffmultis fällt.“
GERHARD DILGER