: Die saure Lust
Ob beim Käsekuchen oder beim Rotkraut: Sauer will gekonnt sein. Ein Plädoyer für die wundervolle Geschmacksvielfalt
VON TILL EHRLICH
Wenn im Morgengrauen der Kopf zerspringen will und Übelkeit in einem hochkriecht wie eine nasskalte Kröte, ist die Party vorbei, und die Erinnerung an die durchzechte Nacht enthält vage Gefühle von Überdruss. Die Sauregurkenzeit der ernüchternden Seele hat begonnen. Der verkaterte Mensch ist ein lichtscheues, hochempfindliches und aller Reize überdrüssiges Wesen. Nicht mal an Espresso mag man denken. Aspirin ist nicht im Haus, die zweihundert Meter zur Apotheke kommen einem so einladend vor wie der Gang über ein zerklüftetes Gletscherfeld. Doch mitten im fiesesten Kater verspürt man noch eine letzte Sinnesregung, den Heißhunger auf Saures. Wer jetzt ohne Rollmops ist, wird lange ein Rollmops bleiben.
Nicht allein Bismarckheringe und Bratfische, besonders saure Gemüse wie eingelegte Gurken, Perlzwiebeln oder Mixed Pickles sollen eine lindernde Wirkung haben, wenn Restalkohol einen quält. Alkohol schwemmt bekanntlich biologische Elektrolyte wie Magnesium und Kalium aus dem Körper, was dann zu Kopfschmerzen, Ekelattacken und Erbrechen bis hin zu Kreislaufproblemen führen kann. Das Salzig-Süßsäuerliche soll den akuten Mangel ausgleichen.
Der Appetit auf Saures muss nicht vom Unbehagen kommen, bereits der Anblick einer Zitrone kann den Speichel lustvoll fließen lassen, ebenso wie ein feucht beschlagenes Glas mit kühlem Weißwein in einer schwülen Stimmung. Die saure Lust hat wohl auch psychosensorische Ursachen, der herzerfrischende Biss in eine saure Gurke wird meist als belebend und anregend empfunden, da er eine komplexe Geschmackserwartung erfüllt, die nicht nur sauer, sondern zugleich auch süß, salzig oder scharf sein kann; eine rätselhafte Spur der eigenen kulinarischen Mentalität, die sich in der Kindheit anbahnt und als Gespür die geschmackliche Identität bildet.
Wer sauer sagt, meint immer auch süß, denn die Süße ist als wichtigste Gegenspielerin des Sauren im Geschmack stets anwesend. Die Kombination von Salzigem und Saurem ohne Süße, wie man sie in Spanien mag, ist unserem Geschmack eher fremd. Die früher populäre milchsäurevergorene Salzgurke ist vollkommen aus der Mode gekommen. Auch Säure und Schärfe mögen wir nur im Trio mit der Süße. Die beliebte asiatische Sauerscharfsuppe ist bei uns in Wahrheit eine Süßsauerscharfsuppe. Sauren Geschmack halten wir pur nicht aus, immer ist ein Hauch Süße präsent, die seine Schärfe mildert und uns vor der brennenden und ätzenden physiologischen Wirkung der Säure schützt. Das Süße wiederum wirkt ohne Säure pappig und banal. Süße und Säure, diese Symbiose zweier Antipoden, kann in unserer Geschmacksempfindung ein Drittes bilden – geschmackliche Spannung. Entscheidend ist, ob diese Spannung plump und vorhersehbar ist wie das erotische Spiel mit der Variation und Wiederkehr des Gleichen oder ob sie vielschichtig und dadurch in ihrem Auftauchen unberechenbar bleibt.
Beim Aufeinanderprallen von sauer und süß wird besonders deutlich, ob jemand Geschmack besitzt oder nicht. Geschmacklosigkeit kommt hier als spannungsloses Gleichgewicht von Süße und Säure zum Vorschein, wobei weder Komplexität noch Lebendigkeit spürbar ist. Besonders wird das bei simplen Essig-Zucker-Mixturen deutlich, sei es als lieblos zusammengerührte Vinaigrette im Salat oder als stereotype „Ente süßsauer“. Das Problem mit der Süße-Säure-Harmonie ist, dass sie meist keine neuen Geschmacksempfindungen hervorruft, weil sie auf Ausgleich fixiert ist. Interessant wird das Verhältnis durch die Einbeziehung des Dissonanten. Auch Dissonanz kann komponiert sein.
Säuerlicher Geschmack und Geruch sind sinnliche Empfindungen, deren Beschreibung auf synästhetische Wahrnehmung zurückgeht. So wird die Säure in einem Wein oft als grün oder hell bezeichnet, wobei das Auge als Orientierung dient. Der Tastsinn ruft wiederum Worte wie kühl und scharf, hart oder weich hervor. Säure wird je nach Erscheinungsbild und Kontext in zwei unterschiedlichen Bedeutungsfeldern wahrgenommen und interpretiert. So kann die Säure als aggressiv, brutal, bohrend, stechend, ätzend und schneidend erlebt werden. Oder vollkommen anders: erquickend, belebend, aufstörend, ja beschwingend, wild und vital.
In den Kulinaria bedeutet die Kunst des Sauren nicht etwa das Erzeugen vordergründiger Süßsauereffekte und -kontraste, sondern das Saure vielstimmig in Proportionen zu bringen. Das kann einen dann richtig aus der Bahn des Gewohnten und Gewöhnlichen werfen. Große Weißweine vermögen dies, etwa Rieslinge, die aus wuchtigen, hochkomplexen Fruchtsäuren und intensiver Natursüße bestehen und eine Geschmacksempfindung auszulösen vermögen, die einen langen Nachklang hat und auch noch nach dem Herunterschlucken präsent bleibt. Ein Geheimnis solcher Geschmacksbilder besteht darin, dass sie eine komplexe Säurestruktur besitzen, die nicht nur aus kurzkettigen, flüchtigen Säuremolekülen, sondern auch aus langkettigen, öligen Säuregebilden bestehen.
Riesling ist die Weinsorte, vor der sich bis vor wenigen Jahren viele Weintrinker fürchteten, weil sie eine aggressive Säure haben kann, die Sodbrennen auslöst und den Zahnschmelz angreift. Doch das Gros der momentan erzeugten Rieslingweine hat eine harmonische Säure. Der derzeitige Rieslingtrend hat gewiss auch damit zu tun, dass die Säure extrem reduziert und homogenisiert wird. Allerdings erschließen sich aus dieser Harmonisierung kaum neue Geschmacksperspektiven. Weißweine von Wert enthalten oft einen Cocktail verschiedener natürlicher Fruchtsäuren, zu denen neben der weichen Weinsäure auch die ruppige Apfelsäure gehören kann – freilich nur in homöopathischen Mengen, als geheimnisvolle Geschmacksnote im Hintergrund.
Der Reichtum komplexer Fruchtsäuren ist oft das Zünglein an der Waage, das besonderen Geschmack von Wein und Speisen zum Besonderen adelt. Ordinärer Essig ist vergleichsweise simpel, weil er meist nur aus Essigsäure besteht, die nicht einmal die geschmackliche Komplexität eines frisch gepressten Zitronensaftes besitzt. Zwar gibt es bei Essig inzwischen auch Erzeugnisse mit komplexen Geschmäckern, doch sie bleiben Ausnahmen. Das oft inflationär verwendete süßsaure „Balsamico“ genannte Essig-Zucker-Wasser aus dem Supermarkt wird meist als universeller Geschmacksverstärker eingesetzt, dem jede Raffinesse abgeht. Damit lassen sich keine i-Tüpfelchen erzeugen.
Käsekuchen lebt vom süßsäuerlichen Spiel. In Berlin ist er meist ungenießbar, weil die quarkige Feinsäuerlichkeit der Milchsäure mit Zucker erstickt wird. Berlins Bäcker schaffen es tagtäglich, eine blasse Zucker-Käse-Pampe zu backen, der jegliche Lebendigkeit abgeht. Ganz anders ist dies bei gutem Frischkäse, der eine feine Säuerlichkeit besitzt, die der Sahnigkeit eine köstliche Frische entlocken kann. Auch Marillenkonfitüre braucht komplexe intensive Fruchtsäuren, um mit der Süße in ein delikates Spiel zu gelangen. Eine tolle Marmelade schmeckt vielschichtig fruchtsäuerlich und zugleich süß, ohne klebrig zu wirken.
Selbst eine scheinbar simple Hausmannsköstlichkeit wie Rotkraut lässt viele scheitern, weil es offenbar schwierig ist, nicht in der Banalität einer Süßspeise zu versacken. Süß, sauer und salzig so auszubalancieren, dass das blaurote Kraut eine subtil säuerliche Spannung in unserer Geschmacksempfindung erzeugt, ohne in trivialen Kontrasten stecken zu bleiben, ist eine Gratwanderung, die die Fähigkeit des genauen Hinschmeckens erfordert, etwas, was jenseits von Schnippeln, Rühren und Ablöschen liegt.
Das Erzeugen interessanter Geschmacksbilder erfordert offensichtlich mehr als Perfektion von Küchenhandwerk und -techniken, es setzt wohl auch einen synästhetisch gebildeten Geschmackssinn voraus. Dazu gehört Erfahrung, denn unsere geschmacklichen Vorstellungen werden durch die Fantasie beeinflusst, und nur sehr selten stimmen die Vorstellungsbilder mit der Wahrnehmung überein. Diese höchst individuellen Erfahrungen, die durch neue Wahrnehmungen bestätigt, enttäuscht und bereichert werden können, schützen vor groben Sinnestäuschungen.
TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert die taz-Sättigungsbeilage