: „Ein Bart aus Mitgefühl und Trauer“
Christian Wulffs unbewusster Bartwunsch: Kurz vor der Landtagswahl in Niedersachsen hatte der Ministerpräsident eine Wette abgeschlossen. Die Frage ist nur: War die Wahlbeteiligung schlechter als bei der letzten Wahl, weil oder obwohl Wulff sich einen Bart wachsen lassen wollte?
NORBERT CHRISTOFF, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker, ist unter anderem Vorsitzender des Lehrinstituts für Psychoanalyse und Psychotherapie, Hannover.
Interview von BENNO SCHIRRMEISTER
taz: Herr Christoff, hätte Christian Wulffs Bartwette überhaupt eine Chance gehabt zu motivieren? Oder war sie völlig irrational?
Norbert Christoff: Nein, für irrational würde ich’s nicht halten. Die Frage ist da eher die Kurzfristigkeit – aber dass das motivierend wirken kann, konnte man ja bei Heiner Brand sehen …
… beim Handball-Bundestrainer, der sich seinen Schnauzbart abrasierte, als die deutsche Mannschaft 2004 Europameister wurde.
Bei der jetzigen Europameisterschaft sollen sich ja die Fans noch immer Schnurrbärte ankleben: Diese Wette damals, diese Differenzierung, ob er nun einen Bart trägt oder eben nicht – die hat sich sozusagen eingebrannt. Die hatte auch Mobilisierungseffekte.
Aber bei Wulff …
Das kann auch der politische Nebenaspekt bei Wulffs Wette sein: Wenn man sein ja im Grunde positiv wirkendes Äußeres kritisch betrachten will, würde man wohl sagen, er hat so etwas Glattes, ihm fehlen hervorstechende Merkmale. Der Bart, der etwas Männliches repräsentiert – ich könnte mir schon vorstellen, dass das Mobilisierungseffekte hat. Allerdings: In der einen wie in der anderen Richtung. Es ist ja möglich, dass sich Wähler beispielsweise gedacht haben: Das will ich doch mal sehen, wie der mit Bart aussieht.
Dann wären sie gerade deswegen weggeblieben – schließlich hatte er ja versprochen, sich den Bart wachsen zu lassen, wenn die Wahlbeteiligung niedriger ist als 2003.
Wenn er jetzt tatsächlich die Wette einlöst, dann ist das jedenfalls etwas, was im Gedächtnis der Wähler haften bleibt.
Doch wohl noch mehr, wenn er sie nicht einlösen würde: Der Einsatz ist ja publik gemacht …
Das macht wirklich den Unterschied. Ich hatte mich auch bei der Vorbereitung auf dieses Interview gefragt: Inwiefern ist diese Geste überhaupt verwertbar. Aber ich denke, er wird nicht drum herumkommen.
Aber was ist das überhaupt für ein Einsatz? Ist das denn eine Strafe, sich einen Bart wachsen zu lassen?
Seinen Einsatz hat er ja noch dazu nur auf zwei Wochen zu Ostern bezogen. Und er hat, glaube ich, im taz-Interview sogar davon gesprochen, sich „einen Bart stehen zu lassen“. Psychoanalytisch könnte man das mit der Strafe tatsächlich in Frage stellen: Häufig stehen hinter dem, was wir als Einsatz beim Wetten anbieten oder hinter dem, was wir träumen, Wünsche. So dass er sich, wenn er sich geirrt haben sollte, in umgekehrter Weise einen Wunsch erfüllt.
Also sogar eine Kompensation?
Durchaus. Ich habe mich bei Herrn Wulff auch, angesichts der Wette, gefragt, ob ihm ein Bart nicht ganz gut stehen könnte.
Ein Risiko hat der Bart allerdings schon: Das Gesicht fühlt sich ganz anders an. Der Bart beeinträchtigt das Selbst-Gefühl …
… er verändert es, würde man erst mal sagen. Aber ich würde Wulff so viel persönliche Strategie auf jeden Fall zutrauen, dass er so eine Wette nicht eingehen würde, wenn er keine hinreichende Sicherheit hätte, dass sich das nicht sehr negativ für ihn auswirkt, dass ihm das nicht zum Schaden gereicht.
Brand hatten Sie erwähnt, der Showmaster Thomas Gottschalk hat auch vergangenes Jahr seine Gesichtsbehaarung aufs Spiel gesetzt, jetzt Wulff. Das überrascht, weil der Bart ein so vieldeutiges Symbol ist, er kommt als Zeichen der Potenz, aber auch der Trauer vor. Oder begünstigt diese Vieldeutigkeit die Bartwetten-Mode?
Das mit der Potenz – da ist natürlich insofern etwas Wahres dran, weil der Bart auch ein äußeres und sichtbares Zeichen von Männlichkeit ist. Die erotisierende Wirkung von Bartwuchs – das ist dagegen eher eine Geschmacksfrage. Da scheint mir auch der Reiz einer speziellen Wette zu liegen: Ich vermute, wie gesagt, dass Wulff, wenn er sich einen Bart stehen lässt, an Attraktivität gewinnen würde. Aber sicher kann er sich da letztlich nicht sein. In so einer Lage sorge ich also dafür, dass nicht ich die Frage entscheiden muss, sondern es mir das Schicksal auferlegt.
Das hieße: Er wollte schon immer einen Bart, hat sich aber dann nicht getraut, das auszuprobieren und schafft sich so eine Gelegenheit, bei der er ohne Gesichtsverlust zurückrudern kann, wenn es nicht gefällt?
Zum Beispiel. Das wäre der Versuch eines psychologischen Erklärungsmusters: Den Gewinn, den man in jedem Fall bei einer Wette hat, unabhängig davon, ob man sie nun verliert oder gewinnt.
Dabei sind historisch-politisch Bärte fast durchweg negativ konnotiert, das Hitler-Bärtchen, die islamistischen Mullahs – es gibt auch so gewalttätige Wortschöpfungen wie den ‚Knebelbart‘: Welche Sehnsucht spricht aus jemandem, der sich einen Bart wachsen lässt? Will da jemand seine dunkle Seite ausleben?
Keine einfache Frage: Es gibt auch an dem Punkt sicher verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Es gibt ja auch verschiedene Arten einen Bart zu tragen. Der Bart zeigt: Ich bin ein Mann. Aber eben als gepflegter Bart auch: Ich achte auf mein Äußeres, ich habe Geschmack. Man schmückt sich heutzutage mit einem Bart.
Ach so.
Was dagegen mehr mit dieser dunklen Seite zu tun hat: Als ich therapeutische Kliniken kennen gelernt habe, wo Patienten mit ihrem Erscheinungsbild konfrontiert wurden, da wurden Leute mit voluminösen Bärten immer in Deutungszusammenhängen in der Richtung: „Der will etwas verstecken“ verortet. Das ist sicher eine Möglichkeit, dass der Bart auch etwas Verschleierndes hat. Gesichtszüge, die ohne Bart viel deutlicher wären – oder aber von denen der Bart als Hingucker ablenkt.
Das hieße …?
… dann wäre der klassische psychoanalytische Zusammenhang – na, das wäre jetzt aber schon wirklich populär- oder Klischee-psychoanalytisch. Das würde in die Richtung gehen: Je größer der Bart, desto kleiner der Phallus, sozusagen.
Aber. Naja gut …
Aber …
In einer Sendung von Radio ffn hatte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff angedroht, sich einen Bart wachsen zu lassen, falls bei der Landtagswahl die Wahlbeteiligung niedriger ausfalle als beim letzten Mal. Davon waren die meisten Prognosen ausgegangen. Noch am Mittwoch hatte Wulff seinen Wetteinsatz bestätigt: „Ich habe das zugesagt“, sagte er dem Sender, „und die Wette gilt.“ Er gehe von einer hohen Wahlbeteiligung aus. Falls er die Wette verliere, wolle er sich den Bart über Ostern wachsen lassen und nach zwei Wochen ein Beweisfoto vorlegen. TAZ
Ja?
Ja. Dass ist natürlich etwas, dass dazu führt, dass um den Bart sehr viele Geschichten und Mythen ranken.
In diese Richtung – Ausleben der dunklen Seite – könnte man ja spekulieren, wegen der Geschichte mit seiner Lebensgefährtin: Indem er sich zu ihr bekannt hat, hat er mit Moralvorstellungen gebrochen, die bei seinen Stammwählern doch sehr verbreitet sind. Und auch in dem Milieu, aus dem er selbst kommt.
Könnte man, doch. Er hat ja auch an anderer Stelle gesagt, dass es für ihn in diesem Jahr drei große Ereignisse gibt, nämlich die Wahl, die Heirat, und das erneute Vaterwerden. Das ist sicher eine latente Grundlage, warum er gerade auf diese Wette kommt.
Immerhin trägt auch der nach den Prognosen chancenlose Widersacher einen Bart. Vervollständigt Wulff seinen Triumph, indem er sich die wenigen Attribute des Gegners aneignet?
Wenn diese Wette im Bezug auf den Herausforderer zu sehen wäre, könnte man aber auch eine Deutung heranziehen, dass er sich in Mitgefühl und Trauer einen Bart stehen lässt wie sein Herausforderer.
Was sagt denn das über die Medien und ihr Publikum, dass wir solche rein symbolischen Einsätze so gierig aufzugreifen?
Das habe ich mich natürlich auch gefragt, nachdem Sie mich angerufen haben: Warum Sie das aufgreifen.
Und?
Meine Interpretation war erst mal: Weil die niedersächsische Wahl gerade diesmal anscheinend nicht besonders spannend ist. Da greift man als Journalist wahrscheinlich nach jedem Strohhalm, der das ein bisschen sportlicher oder bunter oder spannender macht. In seiner scheinbar souveränen Position im Wahlkampf konnte sich Wulff erlauben, etwas Buntes reinzubringen, ein bisschen Nahrung fürs Feuilleton. Ohne dass es ihm zu Schaden gereichen kann. Außer, er würde diese Wette nicht einlösen. Das kann er sich nicht leisten.