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Archiv-Artikel

„Ein Hauch Schwermut ist schon da“

Es gibt ihn, den „nordischen Ton“, behauptet Jochem Wolff, der das morgen in Hamburg durch Tonbeispiele belegen will. Dieses Timbre gelte für alle fünf nordeuropäischen Länder und speise sich unter anderem aus unverfälscht erhaltener Volksmusik

Von PS

JOCHEM WOLFF, 62, Musikwissenschaftler, edierte Bücher und Artikel zur Musik Nordeuropas. Von 1977 bis 1995 war er Dramaturg unter anderem an der Hamburgischen Staatsoper.

taz: Herr Wolff, gibt es wirklich den „nordischen Ton“ in der Musik?

Jochem Wolff: Ja. Er beruht einerseits auf einer speziellen Instrumentierung, andererseits auf Tonarten, die sich jenseits von Dur und Moll bewegen: auf den alten Kirchentonarten. Ein gutes Beispiel ist „Solveighs Lied“ aus Edvard Griegs „Peer Gynt Suite“. Zudem basiert der „nordische Ton“ auf der Volksmusik – auf den Weisen des finnischen „Kalevala“-Epos etwa.

Das Kalevala ist aber doch ein Schriftzeugnis.

Ursprünglich nicht. Texte und Melodien sind mehr als 2.000 Jahre alt und wurden jahrhundertelang durch fahrende Sänger und Kantele-Spieler überliefert. 1935 hat es der Philologe und Arzt Elias Lönnrot erstmals ediert. Dieses Liedgut – vor allem die Grundmelodien – hat nicht nur finnische, sondern auch etliche ausländische Komponisten inspiriert.

Gibt es noch andere volksmusikalische Quellen?

Zentral sind auch die isländischen Rimur-Gesänge: epische, strophenreiche Gedichte, die seit dem 14. Jahrhundert existieren. Sie sind die Wurzel beinahe der gesamten A-cappella-Tradition der nordeuropäischen Länder. Diese Gesänge wurden in Island einerseits in so genannten Stammeszentren gepflegt, später sogar von Mönchen aufgegriffen.

Hat also die Gesangstradition die Musik besonders stark geprägt?

Ja. Chorgesang gehört dort zum Alltag wie bei uns das Zähneputzen. Abgesehen davon hat es in den Nordeuropa nie die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik gegeben. Dort gilt die Volksmusik nicht weniger als Kunstmusik. Das Liedgut ist nie derart zum Kunstlied stilisiert worden wie in Deutschland. Deshalb existiert in den nordischen Ländern noch jede Menge ursprünglichen Liedguts. Zudem hat es hat immer die zugehörige Praxis gegeben – etwa in Form riesiger Festivals. Hochkarätige Komponisten sind sich andererseits nicht zu schade, in die U-Musik hineinzugehen. Der Isländer Atli Heimir Sveinsson etwa hat einen Rap für großes Orchester geschrieben.

Welchen Rang nehmen Komponistinnen bei alldem ein?

Nirgends in Europa gibt es eine so emanzipierte Stellung komponierender Frauen wie in Skandinavien.

Woran liegt das?

Das hängt ganz allgemein mit der Rolle der Frau dort zusammen. Finnland war 1908 das erste europäische Land, das das Frauenwahlrecht einführte, 1913 folgte Norwegen. In Finnland hing das mit der allgemeinen politischen Emanzipation zusammen, in Norwegen unter anderem mit den kritischen Schüben, die Ibsens „Nora“ erzeugte. Die Wurzeln liegen aber tiefer: Schon bei den Wikingern spielte die Frau eine große, selbständige Rolle. Da haben die Frauen, während die Männer auf Kriegszug waren, jahrelang riesige Gehöfte verwaltet. Um Rejkjavik herum gibt es heute noch einen Distrikt, in dem sämtliche Höfe nur von Frauen geführt werden dürfen – das ist gesetzlich festgelegt. Und als ich während meiner Nordeuropa-Reisen während der vergangenen Jahrzehnte Komponistinnen und Dirigentinnen fragte, wie sie sich als Frau vorm Orchester fühlten, haben sie nur gelacht: Schon die Frage offenbarte ein kontinentaleuropäisches Klischee.

Apropos: Das Klischee von der nordischen Schwermut ist wohl sehr abwegig, oder?

Im Prinzip ja. Allerdings muss man einräumen, dass ein Hauch Schwermut schon da ist. Denn natürlich bewegt man sich aufgrund des Milieufaktors in dieser Sphäre anders als etwa im Mittelmeerraum. Da, wo ständig die Sonne scheint, ist man anders gestimmt als in einem Land, in dem man mehrere Monate Finsternis ertragen muss.

Sie glauben an einen Zusammenhang zwischen geographischer Lage und musikalischem Timbre?

Ja. Man darf das aber nicht zu starr sehen. Sibelius und Grieg etwa haben immer darunter gelitten, dass sie – unter anderem von Theodor Adorno – als „Heimatmusik“-Komponisten abgestempelt wurden. Sagen wir mal so: Selbstverständlich komponiert ein Sibelius aufgrund der Eindrücke einer riesigen Seen- und Waldlandschaft und des unvergleichlichen Lichts anders als Béla Bartók, der ein rein urbaner Komponist war. Andererseits stimmt es natürlich nicht, dass ein Grieg in seinem Komponierhaus am Hardangerfjord sitzt und – wie ein Landschaftsmaler – eins zu eins das Plätschern eines Wasserfalls umsetzt. Der Zusammenhang ist subtiler.

Welchen Rang nehmen Komponisten und Musik überhaupt ein in Nordeuropa?

Einen hohen. In Norwegen und Finnland gibt es künstlerische Staatsstipendien, die für ein, zwei Jahre, manchmal auch lebenslänglich vergeben werden. Abgesehen davon gibt es eine dichte Infrastruktur aus Musikschulen. Island etwa hat 120 davon – bei 285.000 Einwohnern. Auch Finnland ist flächendeckend mit Musikschulen ausgestattet. Dass gerade diese beiden Länder hier so agil sind, hängt wohl damit zusammen, dass sie die beiden jüngsten Nationen Nordeuropas sind: Finnland – das Land mit den meisten Opern-Uraufführungen Europas – wurde 1914 unabhängig, Island 1944. Andererseits haben beide Länder eine so lange musikalische Tradition, dass das Bedürfnis, Kultur zu fördern, existenziell und identitätsstiftend ist. Dieses Bewusstsein manifestiert sich durch die Tatsache, dass Kultur dort Parlamentsangelegenheit ist. 1991/92 beschloss das finnische Parlament, jedem Ressort die Finanzen zu kürzen, nicht aber der Kultur. Das ist schon eindrucksvoll. INTERVIEW: PS

„Fünf Länder – eine Kultur- und Musiklandschaft“: Vortrag am Mittwoch, 30. 1., 9 Uhr, Hochschule für Musik und Theater, Hamburg