: Den Mythos brechen
Studenten aus Hamburg, Bremen und Wolgograd haben sich zu einer Geschichtswerkstatt zusammengefunden, die Unterschiede im Gedenken an die Schlacht von Stalingrad beleuchtet. Das Ende des Kampfes, der in Deutschland und Russland zum Mythos wurde, jährt sich heute zum 65. Mal
VON PETRA SCHELLEN
Die Schlacht von Stalingrad wird in Deutschland mit Opfern und dem Leid der Eingekesselten verbunden. Mit den 70.000 Zivilisten und Soldaten, die im Winter 1942 / 43 ums Leben kamen. Mit der Stadt, deren Boden immer noch voll ist von Waffen und Stahlhelmen: Resten jenes Kampfes, der heute vor 65 Jahren beendet wurde und der die Wehrmacht endgültig in ihrer Expansion nach Osten stoppte. Des Sieges der Roten Armee wird immer noch alljährlich gedacht.
Und genau dies: Die Art des Erinnerns erforschen seit September 2006 insgesamt 14 junge Leute aus Hamburg, Bremen und Wolgograd. Sie haben sich zu einer Geschichtswerkstatt zusammengefunden, die „Unterschiede und Überschneidungen des deutschen und russischen Gedenkens an Stalingrad“ ergründet und von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ gefördert wird.
„Wir wollten anhand zweier Museen in Wolgograd die dortige Gedenkkultur analysieren und mit der deutschen vergleichen“, sagt die Hamburger Slavistin Constanze Stoll, die das Projekt initiiert hat. Was der deutschen Gruppe gleich zu Beginn ihrer Recherchen auffiel: dass sie wenig wussten über diesen Kampf – und dass Stalingrad in Deutschland eher ideeller als konkreter Erinnerungsort ist. Dass sie auch jungen Deutschen als „wichtigstes Ereignis des Zweiten Weltkriegs“ gilt, wie eine Blitzumfrage unter 18- und 35-Jährigen erwies – und als entscheidende Kriegswende. Eine These, die Historiker inzwischen widerlegt haben, galt der Krieg doch spätestens seit der Schlacht um Moskau 1941 als verloren.
Derart vorbereitet, war Constanze Stoll überrascht, am zentralen Wolgograder Gedenkort, dem Panorama-Museum, wenig Information, aber viel Pathos vorzufinden. Als Betonzylinder mit leicht gewölbter Kuppel ist der Bau konzipiert. Ein fensterloser Bau mit fast grabähnlicher Atmosphäre, sagt Stoll. „Einführende Texte gibt es nicht. Dafür ein Modell des zerstörten Stalingrad sowie Karten, Uniformen, Möbel von Stalin – und vor allem Waffen.“ Dazu, in eine Betonsäule eingelassen, wie ein schweres, kaum zu blätterndes Buch, der Hitler-Stalin-Pakt. Eine Präsentation, die changiert zwischen Pflichtgefühl und Unlust, das Unliebsame nutzerfreundlich zu zeigen. In der Kuppel prangt ein Schlachtengemälde.
„Wir Deutschen waren ein bisschen enttäuscht, weil wir auf Fakten gehofft hatten“, sagt Stoll. „Zugleich war ich – trotz aller Heldenverehrung – fast dankbar, dass die Sowjets die Deutschen damals gestoppt hatten.“ Die Atmosphäre offenbar wirkt wie gewünscht, und dies ist Ziel der Präsentation. Suggestiv funktioniert auch die theoretische Facette russischen Gedenkens: „Geschichte wird als etwas Statisches begriffen. Als Abfolge von Fakten, aus denen sich eine Wahrheit konstituiert und auf die man nur in einer Weise blicken kann. Der Museumsbesucher, der Nachgeborene, der Zuhörer wird in die Rolle des Zuschauers gedrängt“, sagt Stoll.
Genau dies war auch Movens der Konflikte, die sich zwischen den jungen Leuten – Deutsche und Russen waren sich bezüglich der Ödnis des Museums einig – und der wissenschaftlichen Abteilungsleiterin des Museums, Svetlana Argasteva, auftaten. „Sie misstraute uns, glaubte, wir wollten die Leistung der russischen Armee schmälern oder gar die Opfer verhöhnen“, sagt Constanze Stoll. „Wir konnten ihr schwer verständlich machen, dass Geschichtsschreibung ein Konstrukt ist. Sie sah auch keinen Sinn darin, den Mythos Stalingrad zu zerstören.“
Ressentiments, die Constanze Stoll verständlich findet „in einer Stadt, in der damals fast jeder Angehörige verloren hat“. Die aber auch dazu führten, dass offene Diskussion – etwa über die fehlende Perspektive auf die zivilen Opfer in Stalingrad – schwer möglich war. „Dies ist wohl auch Ausdruck eines gesteuerten Gedenkens, das unter Putin wieder stärker wird“, sagt Stoll. „Denn dieser Mythos lässt vergangene Stärke aufscheinen und weckt patriotische Gefühle. Allerdings auch Kriegsbegeisterung.“ Ein Detail, das Constanze Stoll irritierte. „Zwei junge Russen aus unserer Gruppe“, sagt sie, „nähten Wehrmachts- und Sowjet-Uniformen und spielten die Schlacht bei Stalingrad begeistert nach. Sie taten das auch öffentlich, und die örtliche Zeitung schrieb stolz darüber. „Wären mir diese Jungs hier begegnet, hätte ich Nazis in ihnen vermutet. Aber was diese beiden taten, hatte offensichtlich einen anderen Kontext. Zugleich waren sie sehr sympathisch. Ein merkwürdiges Phänomen.“
Und nur eine Facette der auch in Wolgograd sehr komplexen Gemengelage. Denn einerseits gibt es die jährlichen Gedenkveranstaltungen mit Politikern und Veteranen. Zunehmend nutzt die Stadt die Schlacht als Marketing-Instrument. „Andererseits haben uns die jungen Russen hinter vorgehaltener Hand gesagt, die Veteranen redeten Unsinn. Nur sie, die Jungen, wüssten, wie die Schlacht wirklich war.“
Existieren vielleicht doch mehrere Wahrheiten, auch in Wolgograd? Wenn, dann allenfalls im Verborgenen; offen sprechen kann man schwer. Oft sei bei den Diskussionen zwischen Geschichtswerkstatt-Team und Museumsleuten wohl auch vorauseilender Gehorsam im Spiel gewesen, vermutet Stoll. Etwa, wenn Svetlana Argasteva bei der Auswahl der Fakten für den Flyer, den die jungen Leute als Kommentar zur Ausstellung erstellen wollten, sehr empfindlich gewesen sei. „Die Tatsache, dass Stalin lange verbot, die Stadt zu evakuieren, wollte sie zum Beispiel lieber weglassen. Vielleicht aus Angst, in Konflikt mit der offiziellen Lesart zu geraten.“
Kleinere Brüche mit dem Freund-Feind-Schema gibt es dagegen durchaus: Im Zentralen Kaufhaus Wolgograds, dem Ort, wo Generalmajor Friedrich Paulus gefangen genommen wurde, existiert ein zweiter Gedenkort. „Einerseits ist dort die Gefangennahme von Generalmajor Friedrich Paulus, der den deutschen Angriff befehligte, mit Pappfiguren nachgestellt“, sagt Stoll. „Andererseits wird dort in einer Präsentation das Lazarettwesen der Wehrmacht während der Schlacht von Stalingrad geradezu ehrfürchtig gelobt.“ Auch habe es im Panorama-Museum eine Schau über deutsche Feldpost-Briefe gegeben.
Vermutlich große Schritte in einer Stadt, deren Identität auf dem Sieg über die Deutschen beruht und in der es erbitterten Streit darüber gab, ob deutsche und russische Soldaten nebeneinander beerdigt werden sollten. Inzwischen sind sie es – auf dem Soldatenfriedhof von Rossoschka nordwestlich von Wolgograd.“„Da gibt es noch viel Trauer und Schmerz“, sagt Stoll. „Wir sind als Geschichtswerkstatt auch nicht angetreten, um irgendetwas zu bemäkeln“, sagt sie. „Sondern um Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen und zu diskutieren. Dazu zählt auch, dass eine dekonstruktivistische Sicht in den Wolgograder Museen bislang nicht gepflegt wird.“
Unterschiede des Gedenkens verliefen aber weniger zwischen Nationen, als zwischen Generationen, vermutet Stoll. „Eine junge Russin war sichtlich irritiert, dass das Panorama-Museum keine Geste des Friedens aushing. Der Appell, dass so etwas nie wieder vorkommen dürfe.“ Ein Postulat, das die wissenschaftliche Leiterin des Museums zwar nicht explizit bestätigte. „Aber auch sie trug vermutlich einen Maulkorb. Denn zwischen den Zeilen hat sie uns gesagt, dass über manches eben erst gesprochen werden könne, wenn die Veteranen nicht mehr am Leben seien.“ Das wäre dann fast der Ansatz der Wehrmachts-Ausstellung. Zumindest in diesem Punkt unterscheiden sich die Gedenkkulturen beider Länder nicht.