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Archiv-Artikel

Entspannte Existentialität

Tankred Dorsts neues Stück thematisiert am Bremer Theater das Scheitern utopischer Ansprüche – dargestellt am Beispiel Heinrich Vogelers und der Worpsweder Malerkolonie. Ob „Künstler. Ein Stück“ über das Interesse an der Hauptfigur hinaus als allgemein gültige Parabel taugt, bleibt abzuwarten

AUS BREMEN HENNING BLEYL

In der Theaterwelt nimmt Tankred Dorst eine Sonderstellung ein. Was ist er nicht alles: dienstältestes deutschsprachiger Gegenwartsdramatiker, einer der Meistgespielten ohnehin, und dann noch der einzige aus Thüringen stammende Büchner-Preisträger. Auch das Bremer Theater hat sich jetzt einen Dorst’schen Superlativ gesichert – dem angesichts des produktiven Outputs des 82-Jährigen, immer unterstützt von seiner Partnerin Ursula Ehler, freilich eine gewisse Vorläufigkeit anhaftet: Mit „Künstler. Ein Stück“ war hier jetzt die jüngste Dorst-Uraufführung zu erleben.

Dorst umkreist darin die Utopie, Kunst, Leben und Politik auf einen gemeinsamen produktiven Nenner bringen zu können und hat sich als prototypischen Protagonisten Heinrich Vogeler ausgeguckt. Der Graphiker und Maler, als Jugendstil-Künstler auch vom bürgerlichen Kunstpublikum schwärmerisch verehrt, verwandelte nach der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges seine Künstler-Idylle auf dem Worpsweder Barkenhoff in ein kommunistisches Arbeitskollektiv und Kinderheim. 1925 ging er in die Sowjetunion. Beim Herannahen der deutschen Truppen in die kasachische Steppe verbracht, starb er unter elenden Umständen.

Dramatauglicher kann ein Leben kaum sein. Allerdings zwittert Dorsts Vorlage ein wenig zwischen der Versuchung, das Panoptikum der damaligen Künstlersociety in toto aufzublättern, und der Konzentration auf eine Hauptperson. Letztlich wird nur Vogelers Lebensgeschichte zu Ende erzählt, aber offenbar wollte sich Dorst auch die markanten Meisterleistungen und Macken der anderen Worpsweder VIPs – wie Paula Modersohn-Becker, Fritz Mackensen und Rainer Maria Rilke – nicht entgehen lassen.

Gleich in der ersten Szene hat man dieses ganze Künstlerkonsortium vor sich, traut vereint beim (programmatischen) Plein Air-Malen. Da ist die schwärmerische Paula, die Johanna Geißler in der Bremer Uraufführung ein wenig intellektuell-streberhaft gerät. Der egozentrische Fritz Mackensen, der sein späteres Engagement als Direktor der „Nordischen Kunsthochschule“ schon spüren lässt. Tobias Beyer markiert einen ebenso musefixierten wie muffeligen Otto Modersohn. „Markiert“ ist insofern richtig, als Regisseur Christian Pade seine SchauspielerInnen über weite Strecken auf einen reduzierten, leicht abstrahiert wirkenden Spielstil festlegt.

Was sie inhaltlich von sich geben – in Bezug auf das Ehepaar Modersohn etwa greift Dorst weitgehend auf Brief- und Tagebuchzitate zurück –, sind eher isolierte Einlassungen denn Dialoge. Das statuarische Herumstehen der Figuren erinnert entfernt an Thomas Bischoffs minimalistische Klassiker-Inszenierungen, wobei Pades Ansatz weder die präzise Strenge noch die Entschiedenheit für sich in Anspruch nehmen kann, mit der Bischoff das Bremer Publikum polarisierte.

Pade ist kein Regisseur, der seine AkteurInnen zu akzentuiertem Sprechen anhielte, er bevorzugt wohl eher die verbale Beiläufigkeit. Wer die dadurch auftretenden akustischen Probleme ignoriert, kann sich an einer entspannten Spielweise erfreuen, die vor allem der Hauptfigur zukommt: Dass eine derart tragische Gestalt wie Vogeler bis zum Ende ohne Düsternis auskommt, ist schon bemerkenswert. Fries’ gewissermaßen grundheitere Haltung bewahrt die wahrlich vorhandene Dramatik davor, zur Melodramatik zu verkommen.

Im Umkehrschluss bedeutet diese relaxte Existenzialität, die ihr akustisches Gegenstück in den eingestreuten Elekto-Klängen des Komponisten-Duos Christian Steckroth und Andreas Guth findet, dass man sich das Charisma des jungen Vogeler zum Gutteil selbst imaginieren muss. Denn das Bühnengeschehen bietet da eher Behauptungen denn Erlebnisse. Angedeutete Euphorie ist eben nur bedingt mitreißend, und für welche weltbewegende Utopie Vogeler nun im Genaueren brennt, das könnte hier durchaus erfahrbarer werden.

Immerhin wird die seltsam ungleiche Liebesbeziehung zwischen Vogeler und der Dorfschönen Martha plastisch. Innerhalb von Minuten verwandelt sich das Mädchen zur Frau: Das ist einer dieser genialen Dorst’schen Zeitzooms, ein innerszenisches Accelerando, dessen Beherrschung Varia Linnéa Sjöström wiederholt unter Beweis stellt. Auch Sebastian Dominik spielt seinen Roselius sehr souverän als freundlichen Kapitalisten, als Künstlerversteher, der den Majestätsbeleidiger Vogeler aus dem Irrenhaus befreit. Und wie Siegfried Maschek das Miststück Mackensen selbst dann noch völlig unaufgeregt gelingt, wenn er später den Barkenhoff bei der Gestapo denunziert, ist einfach wunderbar.

Alexander Lintls Bühnenbild lebt vor allem von einem gewaltigen Stahlträger, der diagonal über dem Geschehen baumelt und als Hängevorrichtung für allerlei Leinwände und Politsymbole dient. Man mag den bühnentechnischen Effekterausch, mit dem Hans Kresnik vor fünf Jahren seinen „Vogeler“ auf die Bühne schmiss, aufregender finden, ebenso das damals überbordende Bühnengeschehen – nachhaltiger hat es jedoch nicht gewirkt. Und auch Pades Umsetzung nimmt im Lauf des Abends durchaus noch szenische Fahrt auf.

Vogelers freiwillige Meldung zum Heer mündet in einen Totentanz mit dem Leichnam seines Malerfreundes Hans am Ende, das Blut dient schließlich als Fingerfarbe, um die strahlend weiße Fassade des Barkenhoffs mit einem Sowjetstern zu zieren. In Moskau folgt Vogelers unaufhaltsamer Niedergang. Zur künstlerisch erdrückenden Norm des Sozialistischen Realismus kommt seine Selbstaufgabe gegenüber seinem ideologisch gefestigten Sohn Petja – der von der Regie leider auf Daueraggression eingepegelt und damit als Figur jedweder Komplexität beraubt ist. Dann das Ende in der Steppe.

Pade hat Dorsts Vorlage weitgehend strichlos auf die Bühne gebracht, in der Gestaltung der szenischen Übergänge gelingen ihm sinnvolle Raffungen. Das vorherrschende szenische Understatement allerdings mag von manchen als kostümierte Leseprobe missbilligt werden – bei der Bremer Uraufführung könnten diese Stimmen sogar in der Mehrheit gewesen sein. Dabei ist Pade nicht irgendwer, nicht einer der vielen Gäste, die seit dem Intendantenwechsel im Bremer Theater aus Kostengründen jetzt sehr häufig anzutreffen sind. Sondern, immerhin, der neue Hausregisseur. Dass er, nach seinem nicht wirklich erfolgreichen Einstieg mit „Wilhelm Tell“, das Bremer Publikum mit „Künstler. Ein Stück“ von sich begeistert, ist indes eher unwahrscheinlich.

Das Gleiche gilt allerdings auch für das Stück selbst: Der Nachweis, dass dieser neue Dorst auch ohne Heimvorteil – also außerhalb der Sichtweite von Worpswede – als allgemeingültige Parabel auf auf das Scheitern von Utopien funktioniert, steht aus.

nächste Vorstellungen: 8., 10. + 13. 2., Bremer Theater; www.bremertheater.com