: Tortendiagramme zum Geburtstag
100 Jahre Hebbeltheater: Zur Feier des Tages bestellte Rimini Protokoll am Freitag 100 Berliner auf die Bühne und fragte sie in „100 Prozent Berlin“, was sie denn so denken über ihre Stadt. Heraus kam eine harmlose Statistik
Eine Zeit lang hieß der Jugendstilbau an der Kreuzberger Stresemannstraße noch einmal Hebbeltheater. 2003 war der traditionsreiche Name aufgegangen in den Großbuchstaben HAU, jenem von Matthias Lilienthal geleiten Theaterkombinat, von dessen drei Spielstätten es die älteste ist. Vor hundert Jahren, was nun der Anlass für diverse Feierlichkeiten war, wurde das Haus von Berlins großem Theaterarchitekten Oskar Kaufmann errichtet. Es war nach 1945 das einzige unzerstört gebliebene Theater in den Westsektoren und wurde deshalb für kurze Zeit der Nabel der Nachkriegstheatergeschichte. Hier arbeiteten Größen wie Gustaf Gründgens, deren Karrieren von der Nazizeit nicht wesentlich getrübt worden waren, neben zurückgekehrten Emigranten wie Fritz Kortner.
Insofern hätte man sich im HAU auch ein anderes Jubiläumsprogramm vorstellen können als den hübschen, aber leider auch recht harmlosen Abend „100 Prozent Berlin“ von Rimini Protokoll. Zumal das HAU sich ja selbst den Slogan des kulturellen Erziehungsprogramms der Westalliierten „You too can be like us“ auf die Fahnen geschrieben hatte.
So haben wir es zunächst mit Thomas zu tun. Thomas ist einundfünfzig und Erhebungsbeauftragter. Er tritt vor das Publikum und macht kurz mit dem Prinzip des Abends bekannt, der sich vorgenommen hat, ein statistisches Abbild Berlins auf die Bühne zu bringen. Darum steht Thomas hier stellvertretend für 1 Prozent der Berliner. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, denkt man noch, während nach und nach auch die restlichen 99 Prozent ins Bild kommen. Jeder hat ein persönliches Requisit und stellt sich vor. Vorsichtshalber steht der Text auch noch über dem ersten Rang auf einer Art Teleprompter. Falls jemand vor Schreck vergessen haben sollte, wer er ist. Denn wie immer arbeitet Rimini Protokoll mit Laien. Am Ende haben die hundert Berliner dann die grün ausgeschlagene Drehbühne mit ihren Körpern eingerahmt. Gefilmt und auf kreisförmige Flächen neben der Bühne projiziert, sieht das Ganze schließlich wie eine animierte statistische Grafik aus.
Und weil die Aufführung Teil der Geburtstagsgala war, kam es, dass der Regierende Bürgermeister in der ersten Reihe saß, welcher kurz zuvor noch selbst zwecks Festansprache auf der Bühne gestanden hatte, und nun vorgeführt bekam, was seine Berliner so denken. Die Repräsentationsberliner nämlich wurden auf der Bühne mit allerlei Fragen konfrontiert und konnten sich dann entsprechend unter den Schildern „Ich“ beziehungsweise „Ich nicht“ gruppieren oder auch mit farbigen Tafeln jeweils ein optisches Meinungsbild produzieren. Und so erfuhr dann der Bürgermeister (und der Rest des Publikums natürlich auch), dass seit 1989 nur 6 Prozent vom Westteil in den Ostteil der Stadt gezogen sind, in umgekehrter Richtung gar nur 4. Es wurde nach Träumen und Ängsten gefragt, nach Hobbys und politischem Engagement. Fast anbiedernd klang es, als auch noch gefragt wurde, wer Berlin noch sexy finde.
Ganz davon abgesehen, dass es nicht abendfüllend ist, wenn sich eine Hundertschaft in wechselnden Konstellationen immer von rechts nach links bewegt, kam der Abend von und für echte Berliner und ihren echten Bürgermeister über das Anekdotische kaum hinaus. Auch beschlichen einen angesichts der Prominenz aus Politik und Kultur im Saal und der so genannten normalen Berliner, die da auf der Bühne, vom Teleprompter ferngesteuert, das „Volk“ zu geben hatten, doch etwas zwiespältige Gefühle. Eigentlich wäre es logisch, wenn Rimini Protokoll für diesen Abend den BZ-Kulturpreis bekommen würde.
So richtig schön wurde es erst, als nach 22.30 Uhr der Abend in Karaoke-Seligkeit versank. Der Bürgermeister war gegangen. Auf der Bühne saß nun das von Jan Dvorak dirigierte RIAS-Jugendorchester. Matthias von Hartz und seine Moderatorin Susanne Sachsse holten die Zuschauer zum Schlagersingen mit Orchesterbegleitung auf die Bühne. Die Begeisterung schwoll mit jedem Beitrag. Mit „You too can be like us“ hatten die Amerikaner einst gemeint, dass auch aus den besiegten Deutschen ordentliche Demokraten werden könnten. Doch das ist lange her, weswegen aus heutiger Sicht nichts dagegen spricht, den Satz frei nach Andy Warhol zu deuten: Auch du kannst ein Künstler sein. Wenigstens für fünf Minuten. ESTHER SLEVOGT