: „Das Wachstum ist ein Mythos“
EDGAR MORIN, 86, ist ein Soziologe aus der französischen Linken. Der Sohn jüdischer Eltern kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der Résistance, war bis Ende der 40er-Jahre in der KPF und näherte sich später der sozialistischen Partei an. Morin hat an Universitäten in Frankreich, den USA und Lateinamerikas gelehrt und eine eigene Denkschule gegründete: die „Pensée complèxe“. Seine Bücher handeln unter anderem von Europa, vom Stalinismus und von den Medien. Auf Deutsch erschien sein erstes Werk 1948: „Das Jahr Null“ im Verlag „Volk und Welt“. Morin war gegen den Algerienkrieg aktiv, unterstützt gewaltfreie Gruppen und kritisiert die israelische Palästinenserpolitik.
In seiner Neujahrsansprache – von der die Franzosen eine Ankurbelung ihrer Kaufkraft erwartet hatten – kündigte Präsident Nicolas Sarkozy stattdessen an, er wolle im Jahr 2008 „Zivilisationspolitik“ machen. Damit zitierte er erstmals einen zentralen Begriff – und ein Buch – von Morin, mit dem der Soziologe eine radikale politische Wende propagiert. Seither ist der linke Soziologe in aller Munde. DORA
INTERVIEW DOROTHEA HAHN
taz: Herr Morin, sitze ich dem Vordenker des französischen Staatspräsidenten gegenüber?
Edgar Morin: Aber nein! Ich bin weder sein Guru noch sein Vordenker. Vermutlich hat mich der französische Präsident nicht einmal gelesen. Sein Inspirator, Henri Guaino, hat ihm von der „Zivilisationspolitik“ erzählt. Der Präsident hat diese Idee aufgegriffen.
Er benutzt Ihren Begriff der „Zivilisationspolitik“. Ist das geistiger Diebstahl?
Eine Idee kann man nicht stehlen. Er hat einen Begriff verwendet, den ich als Erster verwendet habe. Aber diesen Begriff kann man in verschiedenem Sinn benutzten.
Was bedeutet der Begriff „Zivilisationspolitik“?
Der erste banale Sinn ist der Gegensatz zur Barbarei. Die Abschaffung der Todesstrafe und der Kampf gegen das Elend – das ist Zivilisationspolitik. Auch der Sozialismus mit seinem Ziel, gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu kämpfen, ist „Zivilisationspolitik“. Aber ich meine mit diesem Begriff unsere westliche, europäische Zivilisation. Die extrem positiven Entwicklungen in Bereichen wie der Wissenschaft, der Technik und der Demokratie haben zugleich negative Aspekte produziert, die immer schwerwiegender werden.
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Der Individualismus. Er ist eigentlich ein sehr positives Phänomen. Weil er Autonomie und einen Sinn für die persönliche Verantwortung bringt. Zugleich hat er zum Verfall der früheren konkreten Solidaritäten beigetragen: in der großen Familie und im Dorf. Das bringt Einsamkeit für die Mittellosen – und Egoismus für die anderen. Der Überfluss an materiellen Gütern bringt Befriedigung und materielles Wohlbefinden. Aber er geht einher mit psychologischem und moralischem Unwohlsein. Es gibt ein Unwohlsein in unserer Zivilisation. Die technisch-ökonomische Entwicklung hat den ökologischen Verfall provoziert, der vielfältige Verschmutzungen unserer Städte, Stress und psychosomatische Krankheiten auslöst. Das ökologische Problem ist eine direkte Konsequenz der Entwicklung unserer Zivilisation.
Sarkozy hat Sie im Élysée empfangen. Hat er Sie um Rat gebeten?
Nein. Er hat mir gesagt, dass seine Vorstellung von „Zivilisationspolitik“ auf Werten und Identität gründet. Und ich habe ihm mein Konzept erklärt. Danach haben wir von dem christlichen Europa gesprochen.
Der rechte Staatspräsident lässt den ermordeten kommunistischen Résistant Guy Moquet in den Schulen ehren. Er holt den Sozialdemokraten Bernard Kouchner in seine Regierung. Er verliebt sich in Carla Bruni, die die Sozialistin Royal unterstützt hat. Und jetzt benutzt er die Ideen eines linken Intellektuellen wie Sie.
Als Unterstützer hat er Leute wie Kouchner und den Philosophen André Glucksmann. Aber nicht mich! Beim ersten Mal, als er die „Zivilisationspolitik“ erwähnte, hat er meinen Namen gar nicht genannt. Als ich in einem Interview sagte, dass ich überrascht und gespannt wäre, was er unter „Zivilisationspolitik“ versteht, hat er mich ins Élysée eingeladen.
Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Wir haben vierzig Minuten miteinander gesprochen. In seiner Pressekonferenz am nächsten Tag hat er mich zitiert. Aber falsch. Ich hatte ihm gesagt: „Sie haben einen ehrlichen Ton. Ich glaube, dass Sie in 75 Prozent der Fälle ehrlich sind. Das erlaubt Ihnen, in den übrigen 25 Prozent in demselben ehrlich klingenden Ton Dinge zu sagen, die Sie nicht denken.“ Sarkozy machte daraus: „Edgar Morin stimmt mir in 75 Prozent der Fälle zu.“
Die „Öffnung“ gegenüber der Linken ist ein Kernstück von Sarkozys Politik.
Sarkozy hat seine Wahlkampagne organisiert wie Bonaparte die militärische Eroberung von Italien 1796/97: Er hat die Themen der Rechten genommen und die Themen der Linken. Schon im Wahlkampf hat er den Sozialisten Jean Jaurès zitiert. Er hat den „Bruch“ propagiert und gleichzeitig die Kontinuität bei dem Personal aus der rechten UMP organisiert. Er hat es geschafft, sowohl linke, als auch rechte und zentristische Themen zu entwickeln. Das ist politisches Genie.
Rechtsextreme Ideen hat er sich auch zueigen gemacht. Unter anderem mit der Schaffung eines Ministeriums „für die nationale Identität“ …
Das ist eindeutig. Sarkozy macht rechtsextreme Politik, wenn es um Einwanderer geht und um Papierlose. Und er hat eine Reihe von sozialistischen Persönlichkeiten gewonnen sowie Persönlichkeiten, die aus der Einwanderung hervorgegangen sind. Er spielt auf verschiedenen politischen Saiten.
Wollen Sie Sarkozys Politik nicht kritisieren?
Ich habe viel Kritik und sehe zugleich ein paar positive Punkte. Seine globale Vision kritisiere ich. Seine Außenpolitik gegenüber Amerika ist eine Anpassung an die harten Tendenzen von Bush.
Zeigt Sarkozys Öffnungspolitik, dass die Unterschiede zwischen links und rechts in Frankreich verschwinden?
Die Unterschiede existieren. Aber das persönliche Gebaren ist etwas anderes. In der französischen Geschichte gab es Linke, die nach rechts gegangen sind. Und Rechte, die nach links gegangen sind. Georges Clemenceau war ein Mann der Linken, der ein Rechter wurde. Pierre Laval, ein Kollaborateur von Nazi-Deutschland, war ursprünglich ein Sozialist. Die Leute können sich entwickeln. Sarkozy achtet auf eine politische Ökumene. Und sei es nur dadurch, dass er diese verschiedenen Minister geholt hat. Sozial und wirtschaftlich hingegen sind Sarkozys Maßnahmen bislang eher zugunsten des Kapitals und der Unternehmer als der Arbeit.
Hauptthema großer Bevölkerungsteile ist die Angst vor sinkender Kaufkraft, vor Arbeitslosigkeit und sonstiger Verelendung. Ist das ein günstiger Moment, um von „Zivilisationspolitik“ zu sprechen?
Die „Zivilisationspolitik“ kann einen neuen Weg zu öffnen. Auch mit der Unterstützung für Berufe, die gesellschaftlich nötig sind, wie Pflegeberufe – Krankenschwestern und Altenbetreuer. Oder damit, dass man Dörfer zu neuem Leben erweckt. Aber die Politiker starren alle wie hypnotisiert auf das Wachstum. Sie stecken in einer Falle: Sie wollen das große Problem der Arbeitslosigkeit durch Wachstum lösen und das Wachstum kommt nicht. Das Wachstum ist ein Mythos.
Das Wachstum ist das Leitmotiv sowohl der europäischen, als auch der französischen Politik.
Die Politiker befinden sich im Schlepptau von liberalen Wirtschaftswissenschaftlern. Sie glauben, dass ihre Antworten allein wirtschaftlich sein müssen. Und haben nicht die geringste politische Fantasie. Der Neoliberalismus schafft eine Weltwirtschaft ohne die geringste Pufferung.
Welche Gefahren sehen Sie?
Diese Wirtschaft ist von einer unerhörten Zerbrechlichkeit gezeichnet. Sie ist von Krisen geschüttelt, die bislang mehr oder weniger eingedämmt bleiben. Aber eines Tages wird das nicht mehr gehen. Und wir befinden uns in einer weltweiten ökonomischen Katastrophe. Alle Prozesse der technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zivilisation führen in die Katastrophe.
Es gibt zugleich neuen Wohlstand.
Natürlich gibt es Zonen von Wohlstand – aber vor allem gibt es neue Zonen von Elend. Nehmen Sie nur die Slums in China und in Brasilien. Weil das alles nicht reguliert ist, gehen wir auf ökologische Katastrophen zu. Ganz abgesehen von den anderen Katastrophen wie Kriege. Es gibt die Entfesselung des „Guten“ gegen das „Böse“. Jeder sieht sich selbst als das „Reich des Guten“. Das führt zu lokalen Kriegen, die zu generalisierten Kriegen werden können.
Sehen Sie Verbündete, um eine „Zivilisationspolitik“ zu machen?
Im Augenblick nur wenige. Bloß Initiativen auf lokaler Ebene: zur Entgiftung eines Flusses, zur Förderung von Qualitätsgastronomie. Aber keine Vernetzungen. Die Menschen erleben auf private Art die Probleme, die eine soziale und politische Dimension haben. Sowie alle möglichen Vergiftungen durch Werbung, Konsum, Autos. Die Leute halten das Unwohlsein für ein privates Übel. Nehmen Psychopharmaka und Drogen. Und gehen zu Gurus und Psychoanalytikern. Tatsächlich ist es ein Problem, das von unserer urbanen Zivilisation kommt. Ein Leben mit der Stoppuhr, ein mechanisiertes Leben, ein hyperspezialisiertes Leben. Es geht darum, das Wohlsein zu suchen – eher, als die Akkumulation von materiellem Reichtum.
Warum erwähnen Sie weder Gewerkschaften, noch linke Parteien?
Es gibt keine Hoffnung in die französische Sozialistische Partei. Da ist eine Neugründung nötig. Nach der Krise des Kommunismus steckt jetzt die Sozialdemokratie in der Krise. Durch die wirtschaftliche Globalisierung hat sich das verschlimmert. Die neuen Bedingungen machen es sehr schwer, den Wohlfahrtsstaat weiter zu entwickeln und den Druck auf den Kapitalismus aufrechtzuerhalten, der für ein Minimum an sozialen Garantien für die Beschäftigten sorgt.
Haben Sie Hoffnung auf eine radikale Wende?
Eine klitzekleine. Solange die Katastrophe nicht da ist, reagiert man nicht. Das ist wie mit den Umweltproblemen. Wir wissen, dass es eine Klimaerwärmung gibt. Aber wir warten ab. Wenn wir in eine schwere wirtschaftliche Krise geraten, wird es auch eine politische Krise geben. Und in solchen Situationen sind Rückschritte ebenso möglich wie Fortschritte. Auch in der großen Krise von 1929 gab es zwei verschiedene Antworten: Den Nazismus und den New Deal von Roosevelt. Die Krise wird Fantasie und Energien wecken. Aber vorerst leben die Leute in den Tag hinein. Mit der Abwesenheit von Hoffnung. Die großen sozialen Bewegungen sind immer von einer Hoffnung in die Zukunft begleitet.