: Die Zukunft, ein Traum
Ganz einfach sieht es aus, wie Beate Gütschow städtische Wirklichkeit in Bilder gescheiterter Utopien verwandelt. Aber sie sind aufwendig aus Fotos zusammengesampelt. Das Haus am Waldsee zeigt mit der Ausstellung „Ganz woanders“ zwei ihrer Serien
VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER
Was ist denn hier los? Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit „S #10“: Irgendetwas ist passiert, aber wir sind nicht sicher, was. Autos sind umgestürzt, daneben steht eine Gruppe Menschen unschlüssig und isoliert in einer unwirtlichen Welt herum, die in ein weites suburbanes Häusermeer mündet, vor dem vereinzelte Bauruinen aufragen. Auf der Betonfläche im Vordergrund ist Schutt aufgetürmt und ein verbrannter Baum säumt den rechten Bildrand.
Wo befinden wir uns und was ist hier vorgefallen? Das sind die Fragen, die sich beim Betreten der unteren Räume der aktuellen Einzelausstellung von Beate Gütschow im Haus am Waldsee als Erstes stellen. Andere Werke der „S Serie“, wie die international bekannte Künstlerin ihre schwarz-weißen Stadtfotografien nennte, sind stärker von desolat gewordenen Betonarchitekturen der Moderne geprägt. Die Utopie einer Architektur, die einst für soziale Ideale stand, wirkt jetzt postapokalyptisch und deplatziert. Die Serie führt den Blick an Orte, die, wie der Titel der Ausstellung bereits suggeriert, „ganz woanders“ sind. Die besiegten Metropolen erscheinen zwar nicht gänzlich unbekannt, aber doch heimatlos. Kein Wunder, denn ihre Wirklichkeiten sind montiert.
Gütschow unternahm den Schritt zur digitalen Fotografie noch als Studentin Mitte der Neunzigerjahre in offener Opposition zur damals alles überragenden Dokumentarfotografie der Düsseldorfer „Becher-Schule“. Ihre Form der Realitätsbefragung galt der Brüchigkeit und stand damit im Gegensatz zu der Vorgängergeneration von Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth. Mithilfe digitaler Montagetechniken setzt die Künstlerin vor das Authentische und Dokumentarische der schwarz-weißen Fotografie selbstbewusst ihre eigenen Interpretationen und Bilderfindungen, die scheinbar genauso real wirken.
Gebäude, Parkplätze, Treppen, Obdachlose, Touristen eignet sie sich in der Regel auf Reisen mit einer analogen Kamera an und verschmilzt Elemente aus Berlin, Chicago, Kioto, Los Angeles, New York und Sarajevo. Bis zu 100 Einzelausschnitte synthetisiert sie aus verschiedenen Gebieten der Welt zu ihren irritierenden urbanen Räumen. Mit diesem Verfahren erarbeitet sie 4 bis 6 Bilder im Jahr über einen Zeitraum von 6 bis 7 Wochen so sorgfältig, dass der langwierige Prozess am Ende gänzlich unkenntlich erscheint.
Das Wissen um ihre Konstruktion macht Gütschows Fotografien aber nicht weniger reizvoll. Eher ist das Gegenteil der Fall. Die faktisch unmögliche Kombination vielfältiger Details und die Suche nach den Fragmenten der Wirklichkeit, die sich theoretisch in der Realität wieder finden ließen, wirken anziehend. Kurzweilig lassen Unstimmigkeiten in den Proportionen den Bruch mit dem Realen spürbar werden und bringen die Orientierung ins Wanken.
Überwiegend ertappt man sich aber selbst dabei, wie man zunehmend in die Stadtlandschaften hineinrutscht. Ihre Sogwirkung erlangen Gütschows Fotografien zuletzt auch durch die Wahl übergroßer Formate. Eine vergleichbare körperliche Beziehung zum Bild erzielt auch die ältere „LS“-Serie, die in den oberen Ausstellungsräumen zu sehen ist. Hier hängen großformatige farbige Naturlandschaften, die eine idyllische Vergangenheit evozieren.
In der „LS“-Serie wiederholt sich das Schema der Landschaftsdarstellung, wie es in der Malerei des 18. Jahrhunderts verwendet wurde. Damals wurde „Landschaft“ von der Malerei als ein in hohem Maße durchkomponiertes Konstrukt behandelt: Das Bild wurde strikt in Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund unterteilt. Diesem Prinzip folgend rahmen Baumgruppen und Gebüsche Gütschows Fotografien, während Menschen als Staffagen im Mittelgrund stehen oder sitzen und an unserer statt auf Hügelketten und weite Felder in der Ferne blicken.
Das alles ist so gut inszeniert, dass die Fotografien tatsächlich anfangen, sich in Gemälde zu verwandeln, obwohl sie nicht gerahmt sind, sondern auf Aluminium aufgezogen und mit Klebeband an der Wand befestigt wurden. Auf ihren unterschiedlich breiten weißen Rändern lassen sich sogar die Druckereinstellungen, technische Daten und Schnittmarken erkennen, trotzdem verblasst das technische Herstellungsverfahren hinter der idealisierten Landschaft. Sind diese geschönten Versionen der Wirklichkeit nicht sogar bereits kitschig?
Aber Gütschow hat auch hier vorgesorgt. Ihre Idyllen sind brüchig. Sie säubert und verbessert ihr Ausgangsmaterial nicht, sondern idealisiert stattdessen den zusammengesetzten Raum. Während ihr Bildraum vollständig konstruiert ist, sind seine Details realistisch. Aus der Nähe betrachtet lassen sich Elemente erkennen, die eindeutig postindustrieller Natur sind. Zum Beispiel ist bei „LS #8“ Müll inmitten der Landschaft zu sehen: Ein blauer Plastikbeutel liegt in der Nähe des picknickenden Paares. In „LS #7“ sitzt die Menschengruppe vor einem Unkrautgestrüpp und im rechten Bildrand liegt ein aufgewühlter Erdhaufen.
In ihrer Eigenschaft, sich unseren Fixierungsversuchen zu entziehen, beeinflussen Gütschows Fotografien das gewohnte Verständnis von Raum und Zeit. Sie untergraben unser inneres Orientierungssystem und verwischen die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Ihre Bilder, für die es kein Original mehr gibt, obwohl wir doch ständig versuchen, sie auf ein solches zurückzuführen, machen deutlich, dass wir uns zwar bereits im digitalen Zeitalter befinden, aber immer noch analog denken und somit „ganz woanders“ sind.
Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, tgl. 11–18 Uhr, bis 24. März. Katalog