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Archiv-Artikel

Der Gaucho unterm Hühnerbaum

Wenn morgens Sanguinetti naht, weiß das Federvieh, dass keine Gefahr droht. Selbst der Hahn traut sich dann, herzhaft zu krähen und Bewohner wie Gäste zu wecken. Dann beginnt auf der Estancia in der uruguayischen Provinz Rocha die Arbeit – auf Wunsch auch für Touristen

Uruguay-Infos

Einreise: EU-Bürger benötigen einen Pass, der noch mindestens drei Monate gültig sein muss.

Anreise: Uruguays internationale Flughäfen werden von allen größeren Fluggesellschaften angeflogen. Die meisten Flüge gehen über Madrid/Buenos Aires oder Rio de Janeiro/São Paulo. Die chilenische LAN fliegt von Deutschland über Santiago nach Montevideo für derzeit ab 810 Euro. Für Flüge innerhalb Südamerikas bietet LAN ferner den „South America Airpass“ an. Nähere Informationen unter www.lan.com und www.oneworld.com.

Reisezeit: Die uruguayische Provinz Rocha kann ganzjährig bereist werden. Die Sommer (Dezember bis März) sind angenehm und die Winter mild. Die übrigen Jahreszeiten bieten sonnige Tage und kühle Nächte.

Veranstalter: Sowohl Rundreisen durch Uruguay als auch Aufenthalte in Estancias wie Guardia del Monte werden organisiert vom Spezialisten Südamerika Line & LatinoBras, Fischbacher Straße 81, 67691 Hochspeyer, kostenlose Telefon-Hotline: (08 00) 8 87 67 88 www.suedamerika-line.de, E-Mail: info@suedamerika-line.de.

Information: Das uruguayische Tourismusministerium informiert im Internet unter: www.turismo.gub.uy und www.mintur. gub.uy. Allgemeine Informationen sind unter www.uruguay magazin.com, www.uruguayin fo.com und www.travelshop.de erhältlich. G. HAUSEMER

VON GEORGES HAUSEMER

In der Küche von Alicia Fernández de Servetto steht ein Herd, wie ihn wohl nur wenige Hausfrauen besitzen. Anderthalb Meter hoch, zwei Meter lang und fast ebenso breit ist das schwarze, gusseiserne Ungetüm, auf dem ein Dutzend Töpfe und ein paar Pfannen Platz finden. Jeden Morgen, wenn Doña Alicia dicke Holzscheite durch die Klapptür schiebt und den Angestellten und Gästen der Estancia Guardia del Monte das Frühstück zubereitet, erinnert die mächtige Kochmaschine sie an die bewegte Geschichte der Provinz Rocha, in der sie lebt. Und daran, wie unberechenbar der Atlantische Ozean vor ihrer Haustür einst war und immer noch ist. Dazu braucht sie nur die ins Eisen gestanzte Inschrift auf der Vorderseite ihres außergewöhnlichen Herdes zu lesen: „Töndering Kjöbenhavn“ – der Name eines dänischen Eisenwerks.

Das rund 8.000 Quadratkilometer große „departamento“ Rocha liegt im äußersten Südosten von Uruguay und zählt zu den stilleren Ecken eines ohnehin nicht vom Massentourismus heimgesuchten Landes. Während 2001 noch 2,1 Millionen Gäste die „Republik östlich des Flusses Uruguay“ – so der offizielle Name des Landes – besuchten, sank die Zahl der Touristen nach dem wirtschaftlichen Kollaps in Argentinien, der sich 2002 auch negativ auf den kleinen Nachbarn auswirkte, um fast 37 Prozent. Erst allmählich erholt sich der uruguayische Fremdenverkehr von diesem dramatischen Einbruch.

2006 kamen zwar bereits wieder knapp zwei Millionen Besucher, doch in die ländlichen Gegenden der Provinz Rocha verlieren sich höchstens ein paar Naturliebhaber und Aktivurlauber, denen die 240 Kilometer entfernte Hauptstadt Montevideo zu hektisch und der nur knapp hundert Kilometer südwestlicher gelegene Badeort Punta del Este zu überlaufen, zu laut, zu hektisch und vor allem zu teuer ist.

Alicia Fernández kann mit dieser gemächlichen touristischen Entwicklung in ihrer Region gut leben. Guardia del Monte, ihr vollständig von Weiden, Wäldern und Wasser umgebenes Anwesen unweit des Städtchens Castillos, bietet ohnehin nur Platz für neun Personen, die in vier geräumigen und geschmackvoll eingerichteten Zimmern unterkommen.

Das kleine Landhotel trägt den Namen eines von drei Wachposten, die die spanischen Kolonisatoren 1780 zum Schutz vor ihren weiter nördlich, im heutigen Brasilien, lauernden portugiesischen Kontrahenten errichteten. Es war Alicias aus Italien stammender Großvater, der ab 1910 auf den Fundamenten der einstigen Kontrollstation eine Ranch aufbaute, die bis heute in Betrieb ist. Doch längst genügen 50 Pferde, 300 Kälber, 400 Schafe und 700 Rinder nicht mehr, um das Überleben der Familie zu sichern. So kam die Besitzerin von Guardia del Monte auf die Idee, ihr Haus für Besucher zu öffnen und sie zum Kennenlernen jener Sehenswürdigkeiten einzuladen, die ihre knapp 1.000 Hektar Land zu bieten haben.

Auch zum Meer sind es nur wenige Kilometer. Dort beginnt die Geschichte von Alicias einzigartigem Herd, die sie jedem Besucher gleich nach der Ankunft mit Stolz erzählt. Ein riesiges Grab aus Wasser – so wird der Küstenabschnitt vor Castillos bis heute genannt. Hier vermischen sich die Strömungen des Atlantischen Ozeans mit den Wellen des von Westen heranfließenden Río de la Plata. Unstete Winde, unerwartete Wetterumschwünge und trügerische felsige Untiefen haben immer wieder für Kollisionen und Untergänge gesorgt. Ein offizielles Register, von dem eine Kopie in der kleinen Bibliothek des Landhotels einzusehen ist, verzeichnet 185 Schiffe, die zwischen 1516 und 1997 vor der Küste vor Rocha gesunken sind. Mehrere hundert sind in derselben Zeit gestrandet. Und von einem davon, einem englischen Frachter namens „Gainford“, der im September 1884 auf den Strand auflief, stammt Alicias Küchenherd. Mehr als ein Jahr lang sollen William Ferguson, der Kapitän, und seine 19-köpfige Mannschaft auf dem festsitzenden Wrack verweilt, die Ladung bewacht und auf Hilfe gewartet haben. Als keine kam, dafür die Spannungen an Bord immer unerträglicher wurden und schließlich im Mord an einem Matrosen gipfelten, machte sich die Besatzung aus dem Staub. Wie der Herd am Ende in den Besitz ihres Großvaters gelangte, kann die Enkelin nicht sagen. Sie weiß allerdings, dass besagter Küstenabschnitt als verhexter Ort galt, wo die Seelen der Toten nie zur Ruhe kamen.

Wenn es in Guardia del Monte nicht ums Zuhören, sondern ums Zupacken geht, tritt Carlos Julio Sanguinetti, der Hausherrin rechte Hand, auf den Plan. Vor bald zwei Jahren wurde der ehemalige Angehörige des uruguayischen Militärs, auch er ein Nachfahre italienischer Einwanderer, als Gästebetreuer auf der Ranch verpflichtet. Jeden Morgen ist Sanguinetti, wie ihn hier alle nennen, als Erster auf den Beinen. Lange bevor die Sonne aufgeht und noch ehe die hofeigenen Hühner von dem mächtigen Ceibo-Baum neben der Küche klettern, auf dem sie sich jeden Abend bei Sonnenuntergang vor den herumstreunenden Füchsen in Sicherheit bringen. Wenn morgens Sanguinetti naht, weiß das Federvieh, dass keine Gefahr mehr droht; selbst der Hahn traut sich dann, herzhaft zu krähen und Bewohner wie Gäste zu wecken. Währenddessen trifft der Gaucho, als der Sanguinetti sich selbst bezeichnet, die ersten Vorbereitungen für das touristische Programm, das bis zum späten Abend keine Minute Langeweile aufkommen lassen wird. Die Pferde müssen in die Koppel getrieben und gesattelt werden; mit Unterstützung der Hütehunde Homero, Tisón und Lola wird die weit auf den Wiesen verstreute Schafsherde zusammengetrieben.

Nach dem Frühstück steht der erste Ausritt an. Auch Anfänger sind willkommen, sofern sie wunde Hintern ertragen können, denn die Wanderungen zu Pferd dauern mehrere Stunden. „Doch keine Sorge“, flachst der Guide, „zurück finden die Pferde immer – mit oder ohne Reiter.“ Mit souveräner Geste hat er seinen Sombrero aufgesetzt und sich eine Machete hinter den Gürtel geklemmt. Da die Zeiten, in denen die wahren Gauchos als freie, ungebundene, von der Hand in den Mund lebende Wanderarbeiter umherzogen, unwiderruflich vergangen sind, baumelt am Gürtel des Reitführers zusätzlich ein Ledertäschchen fürs Handy.

Nicht ohne Grund wurde die Provinz Rocha bereits 1966 von der Unesco zum Biosphärenreservat erklärt. Vor allem in der unmittelbaren Umgebung der Laguna de Castillos, einem flachen Süß- und Brackwasserreservoir, erwarten die Gäste einzigartige Naturerlebnisse. Auch beim Rindertreiben und beim Striegeln der Pferde am Ende der Reittour können die Touristen mit Hand anlegen.

Sofern sie sich nicht lieber zur Vogelbeobachtung zurückziehen oder vielleicht eher Lust verspüren, in der fischreichen Lagune zu angeln, zu schwimmen, mit dem Kanu darüberzupaddeln. Beliebt sind auch die Spaziergänge mit Chefin Alicia, die regelmäßig zu kleinen Wanderungen in das nahegelegene Ombué-Wäldchen aufbricht. Dieser Ort gilt als ganz besondere botanische Rarität, denn Ombues sind eigentlich Solitärgewächse und wissenschaftlich korrekt gar keine Bäume, sondern zweigeschlechtliche Riesengräser, die bestenfalls in Zweier- oder Dreiergrüppchen zusammenstehen. Im Umkreis von Guardia del Monte jedoch gibt es so dichte Ansammlungen von Ombues wie nirgendwo sonst zwischen dem Río Grande, Paraguay und der argentinischen Pampa, wo diese Art beheimatet ist.

Abends macht sich erneut Sanguinetti ans Werk. Wenn er, immer noch mit dem Sombrero auf dem Kopf, in der Glut des Steinofens stochert, geduldig den riesigen Rost mit den würzigen Würsten, halben Hähnchen und saftigen Steaks wendet und dreht, umweht ein Hauch von Gutsherrenromantik die Szenerie. Rotes Fleisch ist beim „asado“, dem traditionellen Gaucho-Grillessen, besonders gefragt. Und nach wie vor recht preiswert, da in Uruguay auf jeden der 3,3 Millionen Einwohner vier Rinder kommen.

Mit ihrem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von gut 60 Kilo liegen die Uruguayer, zusammen mit den Argentiniern, weltweit an der Spitze der Rindfleischverzehrer. Die 13 Millionen Schafe derweil, die auf dem grasbewachsenen uruguayischen Hügelland weiden, werden heute hauptsächlich in die arabische Welt exportiert.