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Archiv-Artikel

Willkommen, Cyber-Brockhaus

Die gedruckte Enzyklopädie ist tot, es lebe das Online-Lexikon! Nun sind alle Fragen offen: Vertieft das den „digital divide“? Werden aus Wissbegierigen Konsumenten im Netz?

VON GINA BUCHER

Der technisch aufgerüstete Leser, der soeben in der Zeitung über den Begriff digital divide stolperte, wird den Begriff sogleich bei Wikipedia nachschlagen – in seinem Blackberry oder iPhone und das womöglich gleich in der U-Bahn. Die irritierten Blicke der Sitznachbarn belächelt er selbstbewusst. Keine Dekade früher hätte der Leser erst abends verstanden, was er morgens in der Zeitung nicht kapierte. Geholfen hätte ihm das Erbstück von Eltern und Großeltern – der Brockhaus. Menschen, die wagen, in gutenbergschen Enzyklopädien nachzuschlagen, gelten inzwischen als aussterbende Spezies. Verwunderung über Cyber-Lexika in Blackberrys, iPhones und iMacs wird dagegen immer seltener.

Der freie Zugang zu Wissen ist wünschenswert und wurde in den letzten Jahren vermehrt euphorisch diskutiert. Wissen ist derzeit ein günstiges Gut, das sich im 24-Stunden-Service von fast überall her erwerben lässt. Allerdings nur für jene, die online sind. Es tut sich eine digitale Spaltung auf – in solche, die online sind, das sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung, und die so genannten Offliner.

Der Zugang zum Wissen der Welt wog bisher 2,29 Kilogramm pro Band, verteilt auf dreißig Bände. Die Brockhaus-Enzyklopädie barg das gesicherte Wissen der Gegenwart, und zwar, so die Eigenwerbung, „wissenschaftlich fundiert, objektiv aufbereitet und in anschaulicher, lesefreundlicher und übersichtlicher Darstellung“. In zweihundert Jahren entstand so eine einzigartige Sammlung des Wissens, variantenreich dokumentiert in bisher einundzwanzig Auflagen. Brockhaus charakterisiert die Leser seiner Enzyklopädie als Menschen „der Altersgruppe zwischen 35 und 40, die (…) es sich nun leisten können und sogar leisten wollen, für ihre eigene Selbstgeltung, aber auch für so etwas wie eine geistige Daseinsvorsorge ein enzyklopädisches Lexikon zu erwerben.“ Kosten: 2.670 Euro.

Die aktuellste Auflage könnte allerdings die letzte sein. Denn die in edles Leder gebundenen Wissensbacksteine rentieren sich nicht mehr. „Wir müssen dabei sein“, sagt Klaus Holoch, Pressesprecher bei Brockhaus. Um der Zielgruppe entgegenzukommen, die es sich leisten kann und will, an Informationen heranzukommen, bietet Brockhaus deshalb seine Enzyklopädie ab dem 15. April 2008 im Netz an. Kostenlos.

Begründet wird der Strategiewechsel mit Millionenverlusten bei den klassischen Nachschlagewerken und dem veränderten Verhalten der Nutzer. Immer mehr Menschen informierten sich über Angebote aus dem Internet. Laut Brockhaus-Sprecher Holoch würden damit keine Kosten gespart, die Investition in das Online-Angebot sei eine Reaktion auf die Verluste bei den Print-Ausgaben. Eine spezielle Wissensnavigation vermittelt in Abstracts und vertiefenden Artikeln qualitätgeprüftes Wissen.

Das bedeutet, dass ab sofort jeder einen Brockhaus hat. Notfalls auf dem Mobiltelefon. Diese Demokratisierung des Wissens ist zu begrüßen, dennoch muss auch nach ihrer Bedeutung gefragt werden. Die totale digitale Vollversorgung einer Gesellschaft ist utopisch. Rund Dreiviertel der deutschen Bevölkerung ist online. Das heißt auch, dass knapp ein Viertel offline ist. Unter Offlinern finden sich nicht nur Netz-Skeptiker. Sondern auch Verweigerer, die bewusst auf Informationen aus dem Netz verzichten, weil ihnen das herkömmliche Medienangebot reicht.

Gängige These ist, dass neue Medien die alten ergänzten. Wenn Brockhaus und andere Verlage auf eine Neuauflage ihrer gedruckten Enzyklopädien verzichten und das gesammelte Wissen nur noch online anbieten, wankt diese These. Wissen wird so zu einem exklusiven Gut, das nur noch online zugänglich ist. Die digitale Spaltung innerhalb einer Gesellschaft wird damit verschärft, erklärt der Publizistikwissenschaftler Mirko Marr. Einer digitalen Vollversorgung der Gesellschaft steht er skeptisch gegenüber, vielmehr müsse das Nutzungsverhalten näher betrachtet werden. Wie verhält sich etwa der große Teil der sporadischen Nutzer im Netz? Und: Wie wird sich der Umgang mit Wissen verändern? Studien zum Nutzungsverhalten der Onliner zeigen, dass nur ungefähr die Hälfte das Internet zur Informationsbeschaffung nutzt. Die meisten nutzen das Netz zu Unterhaltung und Vergnügen.

Der Zugang alleine gewährt noch lange nicht den kompetenten Umgang mit Informationen. Redaktionell betreute Angebote, wie sie Brockhaus anbietet, setzen auf Qualität. Wissen ist zwar Macht, aber nicht jedes Wissen ist relevant. Die verständliche Aufbereitung ist deshalb besonders wichtig. Der Stern verglich jüngst die kostenlose Online-Enzyklopädie Wikipedia mit der damals kostenpflichtigen Online-Ausgabe des Brockhaus. Der Vergleich bescheinigte Wikipedia eine geringe Fehlerquote – betont aber gleichzeitig die bessere Verständlichkeit der Brockhaus-Einträge im Netz.

Trotz Wissensnavigation bedingen Online-Nachschlagewerke einen kompetenten Nutzer. Das Knowhow im Umgang mit Computern fehlt aber genau bei jenem Viertel der Bevölkerung das offline ist, und ihnen so Grund gibt, weiterhin dem Netz fernzubleiben. So verkomplizierten sich Zugänge. Die Gesellschaft, befürchtet Ulrich Riehm vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, werde weiter digital gespalten.

Zwar steht Wissen zukünftig vermehrt ortsunabhängig und kostenlos zur Verfügung. Die Nutzer werden aber im Fall von Brockhaus zu Konsumenten. Finanziert wird „Brockhaus Online“ über Werbung. Die Anzeigen werden von redaktionellen Inhalten klar abgegrenzt. Dennoch stellt sich die Frage, wo Anzeigen gesetzt werden. Wird eine Reise-Anzeige in der Nähe des Eintrags zu Fidschi platziert? Die Anzeige einer Kaffeesorte in der Nähe des Eintrags zur Kakaobohne? Noch sind solche Überlegungen spekulativ. Dennoch werden die Leser von kostenlosen, werbefinanzierten Online-Angeboten zu einer Konsumentengruppe, die nach werbetechnischen Kriterien charakterisiert wird. Die „beruflich erfolgreiche Altersgruppe zwischen 35 und 40“, die sich die Ausgaben des Brockhaus bisher leistete, ist gleichzeitig jene, die die Marktforschung als kaufkräftigste definiert.

Der Umgang mit Wissen hat sich stark verändert. Die Vorstellung der gepflegten Runde im Salon mit Whisky und Zigarre, die mächtige Brockhaus-Enzyklopädie als Drohung im Büchergestell, gehört romantisiert. Die Rezeption von Wissen hat sich an den Rechner verlagert. Dort wird künftig ein Brockhaus-Bildschirmschoner versprechen, was bisher im Büchergestell lagerte. Ob sich damit die Chancen bei „Wer wird Millionär?“ statistisch erhöhen, muss noch erforscht werden.