martin walser, kritik, geistesgegenwart etc. : Klassiker im Spiegelstadium
Einer, der eins und doppelt ist: Martin Walser, wie er leibt und lebt und Vorträge hält. Mit raumgreifender, über Strecken predigerhaften Stimme – und fast schüchternen Gesten dazwischen. Mit großen Thesen über die „dumme Kritikroutine“ in den Medien; über eine Literaturkritik, die stets den eigenen Standpunkt mitreflektieren sollte; über das Glück, nicht identisch zu sein mit den eigenen Meinungen – und mit in ihrer Peinlichkeit fast rührenden Überlegungen darüber, dass uns Anerkennung fehlt und wir deshalb andere nicht genug anerkennen können.
Auch mit einer keineswegs in Routine erstarrten Verletzlichkeit gegenüber dem mal wieder aggressiv aufgeführten studentischen Störungstheater, das ihn auf eine Schlussstrichideologie festlegen wollte – dann aber, nachdem die große Mehrheit der Zuhörer sich genervt bis empört über die Störungen gezeigt hatte, doch mit der Souveränität, seinen Vortrag genau an der Stelle fortzusetzen, an der er unterbrochen worden war.
Es wird von Martin Walser noch gelegentlich die Rede sein. Anfang März kommt sein neuer Goethe-Liebes-Roman heraus, Ende Februar wird er in Anwesenheit des Bundespräsidenten in Weimar präsentiert werden – in der Stadt, in der immer noch der Ginkgo-Baum wächst, dessen Blätter Goethe einst den Vers vom Eins-und-doppelt-Sein widmete. Vorerst hielt Walser an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag zum Thema „Kritik oder Zustimmung oder Geistesgegenwart“, sprach sich dabei gegen eine scheinobjektive Kritik aus, für die produktiven Gehalte des Rühmens, mehr noch aber für eine Geistesgegenwart, die immer auch Selbstreflexion und Selbstaufklärung ist. Martin Walser, so viel konnte man lernen, ist insofern längst ein Klassiker, als er einem das zurückspiegelt, was man in ihn hineindenkt: den Störern einen Anlass zum Kritischsein, den Erbauungssuchenden einen Anlass zur Erbauung und denen, die sich über knorrige Männer, die nicht auf einen Punkt zu bringen sind, freuen können, auch einen Anlass zur Freude. DIRK KNIPPHALS