piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein Romancier von 17 Jahren

Französische Popliteratur aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Hinrich Schmidt-Henkel hat Raymond Radiguet neu übersetzt

Frankreich gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Ein fünfzehnjähriger Schüler, der frühreife, naseweise Icherzähler, sammelt ausgerechnet mit der Braut eines Frontsoldaten erste sexuelle Erfahrungen und protokolliert sein alters- und dann eben auch situationsgemäß etwas derangiertes Seelenleben. „Ich verdankte mein junges Glück dem Krieg“, lässt er sich vernehmen, „und ich erwartete, dass er es vollständig machte.“ Das heißt Jacques, den Ehemann seiner geliebten Marthe, fürs Vaterland sterben lässt.

Es sind solche Stellen, die bei Erscheinen des Romans für Skandal sorgten: einem tapferen, gefeierten Helden von 14/18 werden an der Heimatfront Hörner aufgesetzt, noch dazu von einem Kind – das hat die französischen Patrioten in Wallung gebracht. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei wohl auch die Bauchbinde, die das Buch als „Debüt eines Romanciers von 17 Jahren“ annoncierte – was suggestiv die Authentizität dieser juvenilen Konfessionen beglaubigte, weil es eine autobiografische Lesart zumindest nahelegte.

Der Leser dieser neuen deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, der man nichts Schlechtes nachsagen kann, muss jedoch schon eine symptomatische bzw. literarhistorische Perspektive einnehmen, sonst wird er wenig Freude an diesem Buch haben. Man merkt diesem Debüt einfach zu deutlich seine Anfängerfehler an. So sehr, dass der Verlag den Übersetzer noch zu einem apologetischen Nachwort verpflichtet hat. Und Schmidt-Henkel hat ja recht: Diese typische Sprunghaftigkeit und Inkonsequenz des Teens, die schwärmerische Gefühligkeit, die zugleich durchkreuzt wird von einem ziemlich pragmatischen Egozentrismus – obwohl sich der Erzähler verzehrt nach seiner Marthe, lässt er nichts anbrennen –, ist hier schön eingefangen. Man bekommt ein ziemlich detailliertes und glaubhaftes Psychogramm eines Postpubertierenden. Allerdings vernachlässigt Radiguet für die bekenntnishafte Introspektion fast gänzlich die Beschreibung der äußeren Romanwelt. Die Szenerie bleibt schemenhaft, und das übrige Personal wird entweder stereotyp oder gar nicht charakterisiert. Die Menschen, die den Liebenden das Leben doch so schwer machen, sind nicht mal Pappkameraden, es sind Gespenster.

Noch schwerer wiegt jedoch die Affinität des Autors zur sentenziösen Schlaumichelei, die auch 1923 schon unfreiwillig komisch gewirkt haben muss. „Sein Zorn darüber, dass er gefangen wurde, tut dem Wolf genauso weh wie die Falle“, weiß der Romancier von 17 Jahren. Und: „So wie eine Biene von Blüte zu Blüte fliegt und die Ernte in den Bienenstock trägt, so trägt ein Verliebter all seine Gelüste, die ihm auf der Straße kommen, in seine Liebe.“ Da sind die Benjamin Leberts und Nick McDonells von heute weiter.

Raymond Radiguet, der schon vor seinem Bucherfolg der Pariser Literatenszene angehörte und etwa von Jean Cocteau protegiert wurde, soll sich gern mit Monokel und Stock verkleidet haben, um erwachsener zu wirken. Das ist auch das Hauptproblem dieses Romans. Man sieht ihm sein Monokel an. Radiguets Alter Ego ist sich nämlich der Infamie seines Tuns und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Ächtung schmerzlich bewusst. Er ist eben nicht nur der jugendliche Tor, der alles im Augenblick des Erlebens mitstenografiert, sondern auch schon der vermeintlich abgeklärte Erwachsene, der von seinem früheren Sündenfall berichtet, seine Amoralität also immer schon einsieht und gelegentlich auch bedauert. Das beeinträchtigt dann aber in nicht geringem Maße die Suggestionskraft des Buches. „Ich werde mir viele Vorwürfe einhandeln. Aber was kann ich dafür? Ist es meine Schuld, dass ich ein paar Monate vor Kriegsbeginn zwölf wurde? Die Verwirrungen, die diese außergewöhnliche Zeit für mich mit sich brachte, waren ganz sicher andere, als man sie in diesem Alter sonst erlebt.“ So beginnt der Roman. Und schon im Titel „Der Teufel im Leib“ schwingt ja eine Art Exkulpation mit, als hätte Radiguet Angst vor der eigenen Courage. FRANK SCHÄFER

Raymond Radiguet: „Den Teufel im Leib“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Hoffmann und Campe, Hamburg 2007, 160 Seiten, 14,95 Euro