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Archiv-Artikel

Abschied auf Planet Alsen

Vor einem Vierteljahrhundert schloss die große Zementfabrik vor den Toren Itzehoes. Jetzt wird sie abgerissen. Doch was einmal die „Alsen’sche Portland-Cement-Fabriken KG“ war, ist inzwischen zu „Planet Alsen“ geworden – wo Kunst und Kultur zwischen den Bauten aus Beton wuchsen

„So wie in uns, ist hier nichts ideal – als wandele man durch seine eigene Innenwelt“

von Mathias Becker

Der Regen tropft durch das Dach von Setus Studts Atelier in eine Spülwanne. Der Wind pfeift durch undichte Fenster. Rostige Automaten an den Wänden zeugen von einer längst vergangenen Zeit. Das Gebäude, in dem der Künstler Studt seinen Arbeitsraum hat, ist das letzte einigermaßen intakte auf dem Gelände der zerfallenen Fabrik vor den Toren Itzehoes. Bald wird es auch das einzige sein: Die imposante Ruinenstadt soll fallen. Seit Ende Januar schon fressen sich die Bagger durch den Beton.

120 Jahre lang war hier Klinker gebrannt und Zement produziert worden. 120 Jahre lang überzogen die Aktivitäten der „Alsen’sche Portland-Cement-Fabriken KG“ die Gegend mit feinem Staub. Und die Schaltkästen, die heute traurig in Studts Raum schauen, haben einst geholfen, die heutige Kreisstadt Itzehoe vor den Toren Hamburgs in der ganzen Welt bekannt zu machen. Itzehoe, die „Zement-Stadt“.

Dann, 1983, kam das Aus für die Produktionsstätte und das 20 Hektar große Gelände blieb sich selbst überlassen. Wenig später begann Studt seine Entdeckungstouren durch die monströsen Räume, Hallen und Kessel der stillgelegten Fabrik. Er sammelte ein, was an Gerätschaft liegen geblieben war und machte Fotos von der Geisterstadt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit. Einem Friedhofswärter gleich, pflegte der damals 30-Jährige die Erinnerung an das Gewesene. Und entdeckte auf diese Weise das Lebendige im Zerfall: Rost fraß sich langsam in den Ort hinein, Pflanzen wuchsen aus ihm heraus. Pfützen wurden zu Teichen und spiegelten die Welt um sich herum. Jeden Tag, ja jede Sekunde wechselte der Ort sein Erscheinungsbild. Wenn man nur genau hinsah. Studt sah genau hin und erkannte eine Welt für sich. Er taufte den Ort „Planet Alsen“. Und begann ihn zu erforschen, fast täglich.

„Es gab ja immer was Neues zu entdecken“, sagt er heute. Die „Golden Rooms“ zum Beispiel. Diesen Titel gab Studt einem Phänomen, dass nur wenige Male im Jahr sichtbar wird: Kurz vor und kurz nach der Wintersonnenwende taucht die untergehende Sonne einige Hallen auf Alsen für wenige Minuten in strahlend-goldenes Licht. Der Anblick verschlägt einem fast den Atem. Sechs Jahre brauchte Studt für diesen Fund.

Bald bemerkten auch andere das Leben auf dem fremden Planeten: Erst kamen Spaziergänger, dann Fotografen und Filmemacher. Einige offensichtlich aus dem Unterhaltungssegment „Lack und Leder“.

Später lieferten sich Crossgolfer und Gotcha-Schützen Wettkämpfe auf dem gigantischen Spielplatz. 1995 begannen Graffitikünstler, das Gelände auf ihre Weise zu beschlagnahmen: Von der Polizei geduldet, überzogen sie das Areal seither mit unzähligen Lackschichten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Studt bereits ein stattliches Archiv angelegt. Und bis heute dokumentiert er akribisch, was „auf Alsen“ passiert: Gigantische Karteikartenschränke aus den 50er Jahren, hölzerne Modelle von Maschinenteilen und rostige Armaturen hat er aus dem Schutt gefischt. Allein damit könnte er ein mittelgroßes Museum füllen. Mit seinen Fotos ein weiteres. Etwa 20.000 Mal hat er auf den Auslöser gedrückt. Schätzt er.

„Philosophische Fotografie“ nennt Setus Studt seine Arbeit. „Weil sie das Leben im Zerfall dokumentiert“, sagt er. „Planet Alsen repräsentiert diese Widersprüchlichkeit. Der Ort ist brüchig, weil er interpretierbar ist. So wie in uns, ist hier nichts ideal – es ist als wandele man durch seine eigene Innenwelt.“ Der Aufenthalt an Orten wie diesem sei deshalb so heilsam, weil die heimliche Sehnsucht des Menschen dem „Nicht-Vollkommenen“ gelte. Zwar gäben Touristen viel Geld für perfektes Entertainment aus. „Aber wenn sie aus dem Club-Urlaub zurückkommen, ist alles, was sie auf der Reise bewegt hat, außerhalb der Ferienanlage passiert.“

Stets hat Studt Menschen eingeladen, ihre eigenen Interpretationen von Alsen umzusetzen. Er holte Konzertveranstalter her und stellte Filmteams Strom und Wasser zur Verfügung. Die Band Torfrock wurde hier bejubelt, Häuserkampfszenen wurden gedreht. In einem Musikvideo, dass auf Alsen spielt, steht gar Ralf Möller vor der Kamera und röchelt ins Mikrofon, eine Pyro-Show im Rücken.

Und Studt rief den „Architektur- und Kultursommer“ ins Leben: Seit 2005 pilgerten alljährlich Lichtkünstler, Architekten und Stadtplaner in die Ruinen. Und während die einen sie eindrucksvoll illuminierten, entwickelten andere ehrgeizige Nutzungspläne: Freilichtbühnen und Bazare, Konferenzräume und Campground. Die Ideen sahen vor, die Struktur der Bestandsgebäude zu erhalten und mit modernen Elementen zu verknüpfen. Kühne Projekte, die aus der „Zement-Stadt“ die „Event-Stadt“ gemacht hätten.

Alle Versuche, dieses Vorhaben umzusetzen, scheiterten jedoch an Betonköpfen in der Politik. Deren Liste stadtplanerischer Sünden war in Studts Augen damals schon lang – und so entschied der Künstler, selbst in die Politik zu gehen. Vier Abgeordnete zählt das „Itzehoer Bürgerforum“, seine Fraktion im Stadtrat – doppelt so viele wie die Grünen. Aber zu wenig, um das gigantische Projekt umzusetzen. Natürlich fehlt auch Geld. „Aber man hätte die Hallen wenigstens versiegeln und abwarten können“, sagt Studt. Vielleicht wären irgendwann Investoren aufgetaucht.

Geblieben ist immerhin die „Kunstmeile“: Das längliche Gebäude am Rand des Geländes dürfen die 100 Mitglieder des Planet Alsen e. V. weiterhin nutzen. Studts Archiv lagert hier, in anderen Räumen arbeiten Künstler. Eine große Galerie und ein Veranstaltungssaal werden regelmäßig bespielt.

„Wir haben nichts Vergleichbares in Itzehoe“, sagt Studt und blickt in Richtung Hauptstraße. Dort, wo einmal ein Stück „Planet Alsen“ war, hat ein Fastfood-Restaurant eröffnet, ein Elektronikmarkt folgte. Wenn alle Ruinen gefallen sind, der Schutt abtransportiert ist, stellen sie hier einen Tierfutter-Discounter auf, munkelt man. „Vielleicht bauen sie ja auch noch eine Waschstraße“, sagt Studt und grinst. Galgenhumor. Was dann bleibt, ist sein Archiv. Und die Erinnerung.