Die dunkle Seite der Volksherrschaft

Biologistische Ausgrenzung bleibt eine Gefahr auch in Demokratien. Diese These erläuterte Historiker Michael Wildt bei einem Vortrag in Hamburg

Das Hamburger Institut für Sozialforschung, seit vielen Jahren mit dem Thema der Gewaltanwendung im 20. Jahrhundert beschäftigt, hat für diesen Winter eine Vortragsreihe zum Thema „Gewalt und Moderne“ aufgelegt. In deren Rahmen referierte nun Michael Wildt, Professor der Zeitgeschichte und Verfasser einer Reihe bedeutender Arbeiten, beispielsweise zum Führungspersonal des nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamtes. Wildts Vortrag trug den Titel „Gewalt und Volk. Geht alle Gewalt vom Volke aus?“

Schon in der Titelwahl lag die Pointe des Vortrags. Wildt nahm den so lapidaren, den scheinbar so selbstverständlichen Verfassungssatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ in seine Bestandteile auseinander und fragte einfach: „Was ist das Volk, was der Staat und was Gewaltausübung?“

Wildt versagte es sich, auf seine Fragen eine allzu simple Antwort zu geben. Die hätte im Hinweis auf das Prinzip der Repräsentation bestanden. Das Volk wählt und alles andere besorgen Parlament und Regierung. Aber die Volkssouveränität hat einen revolutionären Ursprung, der nie gänzlich verschwindet. Wenn das Volk sich zurückmeldet, auf dem Kiewer Maidan etwa oder in der ungarischen Revolution von 1956, organisiert es sich in spontanen Aktionsformen. Und wir sind bereit, diese Aktionen als Ausdruck des Volkswillens zu akzeptieren.

Wildt negierte das Prinzip der Repräsentation nicht, bestand aber darauf, dass das Problem der Vereinbarkeit von individueller Freiheit und Herrschaft sich in der repräsentativen Demokratie nicht auflöst. Erneut warf er – im Rückgriff auf Jean-Jacques Rousseau – die Frage auf, wie es gelingen könne, dass jeder, „indem er sich mit allen vereint, dennoch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor“.

Bei der Antwort auf diese Frage Rousseaus stieß Wildt auf das Problem, dass Jean-Jacques bei der Bildung des „allgemeinen Willens“ den auf das Gemeinwohl verpflichteten Staatsbürger voraussetzt – der aber andererseits erst durch vernünftige Gesetze erzeugt werden muss. Aus diesem Widerspruch resultieren alle Versuche, seitens politischer Eliten festzulegen, was dem Volk frommt und wer eigentlich das Volk bildet.

Hier ist der Geburtsort der Ausschließungsmechanismen, der linken, vor allem aber der nationalistisch-rechten, die den staatsbürgerlichen Begriff des demos durch den des ethnos, also der Abstammung, des Blutes, ersetzen. Die Bio-Politik der Auslöschung wie der Züchtung ist nach Wildt nicht auf totalitäre Regime begrenzt. Sie bildet vielmehr eine stets präsente Gefahr auch in Demokratien. Sie ist die dunkle Seite der Volksherrschaft.

Dennoch ist das Prinzip der Volkssouveränität für Wildt nicht hintergehbar. Wir können nicht unsere Freiheit aufgeben, Autoren der Gesetze zu sein, denen wir gehorchen. Wildt schlug vor, die Idee des Volkes als einer Einheit fahren zu lassen und stattdessen von einer Vielheit von BürgerInnen auszugehen. Die Gesellschaft ist plural, so Wildt, warum sollten wir nicht von einer Pluralität der Autoren selbstbestimmter Gesetzgebung ausgehen? Das klingt kompliziert, ein wenig verrückt und ist es nach Wildts abschließender Meinung sicher auch.

Die Diskussion, meist von bemoosten Häuptern geführt, oszillierte zwischen Nähe und Ferne, zwischen der Klage über die Abgehobenheit der parlamentarischen Demokratie und dem Lob des konfuzianischen Ideals wohlwollender Eliten. Jan Philipp Reemtsma steuerte eine ebenso exzentrische wie beunruhigende Frage bei: Ob wir nicht, augenzwinkernden Auguren gleich, von Volksherrschaft redeten, wohl wissend, dass diese eine Fiktion sei und bleibe.

CHRISTIAN SEMLER