: berliner szenen Loretta und ich
An der See
Neue Stromkreise, wir fuhren nordwärts, wir wollten ans Meer, bevor wieder alles zu Ende war. Silberne Erinnerungen, das Treiben der Boote und die Fender zwischen uns, das wollten wir sehen. Wir parkten Lorettas kleines Auto, es war ein roter Peugeot, am Rand einer Küstenstadt und stiefelten los. Über uns kreisten Hubschrauber. Der Himmel war grau wie Asche. Bataillone von Taschendieben waren angereist. Die Polizei irrte herum. Ein Rucksack wurde verdächtigt, der Strand abgeriegelt. „Nicht bewegen“, sagte jemand. Nicht bewegen! Und dann Blitzlicht.
Wir flüchteten in ein Promenadencafé mit Panoramablick. Die Tür rumste, es herrschte Durchzug, an den Wänden hingen Bilder von Frauenbeinen. Sie wackelten. Der Soundtrack von „Broken Flowers“ schlich uns um die Ohren. Dann wieder Blitzlicht. Jemand knipste die Torte.
Eine Fragestunde begann. Loretta wollte es wissen. Was mich leitete, immer wieder über sie in der Zeitung zu schreiben. „Da bin ich nicht der Einzige“, sagte ich. „Eigentlich schreibe ich ja über Leute, um sie von mir abzuhalten. Kleine Schachzüge, Texte als Barrikaden, Lyrik für Flughäfen. Nur bei dir ist das anders, über dich schreibe ich, um dich zu erreichen.“ Loretta regte sich nicht. Sie schaute ins Leere. „Und wozu hast du ein Auto?“, stellte ich eine Gegenfrage. „Es gibt mir ein jugendliches Gefühl“, antwortete sie. Sie lächelte mehrdeutig, dann schwiegen wir. Nach einer Weile kam die Sonne und spiegelte sich in den Fenstern. Auch Loretta strahlte. Die Leute um uns herum zückten die Kameras. „Ich wollte es tun, bevor die große 5 kommt, aber ich wollte es am Strand tun!“, rief Loretta in der Menge. Die Leute verstanden nicht. Sie knipsten. Fototermin, Fotoroman. Und Blitzlicht. RENÉ HAMANN