jahrbuch lateinamerika : Nutzt die Linke den Rohstoffboom?
Wie wirkt sich der viel beschworene „Linksruck“ Südamerikas nicht nur in Wahlergebnissen, sondern auch in der Regierungspraxis von Lula, Chávez & Co. aus? Dank der Hochkonjunktur der letzten Jahre verfügen viele rosarote Regierungen des Subkontinents über ungewohnt große finanzpolitische Spielräume. Der Export von Mineralien, Erdöl, Erdgas oder landwirtschaftlichen Produkten beschert nicht nur den beteiligten Konzernen hohe Einkünfte, sondern lässt auch die Devisenreserven der Herkunftsländer anschwellen.
Nach der rundum lohnenswerten Lektüre des aktuellen „Jahrbuchs Lateinamerika“ drängt sich ein ernüchterndes Zwischenfazit auf: Manche Regierungen scheinen die historisch bekannten Risiken des Rohstoffbooms für eine eigenständige, soziale und umweltfreundliche Entwicklung zu ignorieren. Andere sind – noch – weitgehend unfähig, der selbst im Mainstreamdiskurs beendeten „langen neoliberalen Nacht“ (Ecuadors Präsident Rafael Correa) auch in der Praxis langfristig funktionierende Alternativen nachfolgen zu lassen.
Zur ersten Gruppe gehört die Regierung Lula. Ähnlich wie Argentinien setzt Brasilien auf ein strategisches Bündnis mit dem nationalen und internationalen Agrobusiness, das sich beispielsweise in der Einführung der Gentechnik in der Landwirtschaft niederschlägt. Regine Rehaag zeichnet nach, wie systematisch der vormalige Gentechkritiker Lula den transgenen Sojabohnen den Weg in die Legalität geebnet hat; Mais und Baumwolle sollen folgen. Für die Ethanolproduktion werden die Zuckerrohrmonokulturen ausgeweitet, die die Viehzucht in Richtung Amazonien abdrängen. Thomas Fatheuer ist skeptisch, ob diese Entwicklung durch die Vergabe „grüner“ Siegel aufgefangen werden kann, wie dies große Umweltverbände des Nordens propagieren. Eine Perspektive für Kleinbauern sieht er hingegen im brasilianischen Biodieselprogramm – doch selbst davon profitieren bislang vor allem große Sojafirmen.
In Chile setzt die Sozialdemokratin Michelle Bachelet, eine „nur etwas andere Präsidentin“ (Urs Müller-Plantenberg), die neoliberale Wirtschaftspolitik ihrer Vorgänger fort, zu der die Begünstigung der exportorientierten Holzwirtschaft auf Kosten der Mapuche-Indígenas gehört.
Hoffnungsvollere Ansätze sind hingegen in Venezuela oder auch Bolivien auszumachen, wo die neuen Linksregierungen die Erdölkonzerne spürbar stärker zu Kasse bitten. Ingo Bultmann zeigt in seinem Beitrag über den „neuen Ressourcennationalismus“, wie sich die Diskurse darüber je nach Epoche, Land und sozialem Kontext unterscheiden. In Bolivien fordern demnach indigene Basisorganisationen bei Evo Morales selbstbewusst ihre Mitsprache ein.
In Venezuela hat Hugo Chávez durch erdölfinanzierte Sozialprogramme seine Basis bei den Armen gefestigt, ohne Privatunternehmen die Beteiligung am Ölboom zu versagen. Daher hänge sein Projekt zu sehr von der Dynamik der Erdöl-Weltmarktpreise ab und sei entsprechend labil, findet Bultmann und weist auf das Fehlen eines Verhandlungssystems hin, „das alle gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt“. Elmar Altvater würdigt die Versuche, über das linke Handelsbündnis „Bolivarianische Amerika-Alternative“ den Freihandel auszuhebeln oder durch die „Bank des Südens“ der Fremdbestimmung durch IWF oder Weltbank zu entgehen. Zugleich warnt er zu Recht: Erdöl wie Chávez zu der Basis der lateinamerikanischen Integration machen zu wollen oder wie Lula im großen Stil auf Agrotreibstoffe als „erneuerbare“ Energieträger zu setzen sei langfristig gleichermaßen illusionär. GERHARD DILGER
Karin Gabbert u. a. (Hg.): „Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte. Band 31: Rohstoffboom mit Risiken“. Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, 222 Seiten, 24,90 Euro