: Ein Maskenspiel
Tom Reiss’ „Orientalist“ erzählt von Essad Bey, dem jüdisch-muslimischen Bestsellerautor im Berlin der Zwanzigerjahre
VON TOBIAS RAPP
Es gibt Biografien, bei denen man während der Lektüre immer wieder aufs Neue kleine Eigenrecherchen anstellt, als müsste man sich in den Arm zwicken, um sich zu versichern: Dies ist alles wirklich passiert. Dies ist ein Leben, das gelebt wurde und das sich niemand ausgedacht hat. Man will sich sagen: Ich hab’s nachgeprüft, einiges zumindest. Das Leben von Essad Bey alias Lev Nussimbaum ist so eines – und wenn man es in ein paar Worten zusammenfasst, etwa weil man jemanden von dem Buch „Der Orientalist“ vorschwärmt, der großen Biografie, die der New Yorker Journalist Tom Reiss über Bey verfasst hat, sieht man den gleichen Zweifel auf den Gesichtern seiner Gegenüber, den man selbst bei der Lektüre hatte. Das soll ich glauben?
Essad Bey oder Lev Nussimbaum ist das Kind eines jüdischen Ölmagnaten aus Baku, der während des Booms im Kaukasus zur riesigem Reichtum gelangt. Er wird 1905 geboren, seine Mutter ist eine Revolutionärin, die Selbstmord begeht, weil sie den Spagat zwischen ihrer Familie und der Partei nicht mehr halten kann. Nach dem Sieg der Bolschewisten im russischen Bürgerkrieg fliehen Vater und Sohn in einer langen Reise über Istanbul nach Berlin. Hier geht Bey zur Schule, studiert und wird schließlich mit Essays, einigen Romanen, der ersten Stalin- und einer Mohammed-Biografie zum gefeierten Bestsellerautor. Neben Autoren wie Walter Benjamin ist er eine wichtige Stimme in der Literarischen Welt, um dann, nach einigen Irrungen und Wirrungen, einer Flucht vor den Nazis nach Wien und einem längeren New-York-Aufenthalt, im Italien der Dreißiger zu landen. Dort wird Bey beinahe Mussolinis Biograf. Schließlich stirbt er 1942, verarmt und vergessen – im Alter von gerade mal 36 Jahren.
Selbst in der Geschichte, wie Reiss zum Objekt seines Buches kommt, hallen die abenteuerlichen Zufälle von Beys Leben noch nach. Um eine Reportage über den Ölboom auf dem Kaukasus zu schreiben, fuhr Reiss 1998 nach Baku – und hatte „Ali und Nino“ im Gepäck, einen Roman, den Bey 1937 in Wien veröffentlicht hatte, allerdings unter dem Pseudonym Kurban Said. Es ist Beys erfolgreichstes Buch, das bis heute Neuauflagen erlebt, und war Reiss als Einführung in die Verhältnisse vor Ort empfohlen worden.
Kaum ist er dort, werden ihm die widersprüchlichsten Geschichten über dessen Autor erzählt. Reiss wird neugierig, und eine Arbeit beginnt, die ihn in mehreren Jahren durch alle möglichen Länder führen wird – bis er am Schluss die in Leder gebundenen handschriftlichen Memoiren Beys im Tresor einer sehr alt gewordenen Arisierungsgewinnlerin auftreibt. Das Vorwort, in dem Reiss all dies erzählt, ist eine ganz eigene Detektivgeschichte, voll unwahrscheinlicher Wendungen und illustrem Personal.
Man möchte gar nicht zu viel verraten von all den interessanten Geschichten, die Reiss herausgefunden hat. Was etwa der junge Stalin in der Küche von Bey zu schaffen hatte oder wie es in der militanten Islamistenszene Berlins in den frühen Dreißigerjahren so zuging. Was man sich unter den Bergjuden von Aserbaidschan vorzustellen hat und wie die oft beschriebene russische Exilantengemeinde von innen aussah, die in den späten Zwanzigern den Berliner Westen bevölkerte, nachdem es im restlichen Europa zu teuer geworden war. Bey ist mit den Nabokovs und Pasternaks befreundet, geht mit den Schwestern von Boris zusammen zur Schule.
Tatsächlich sind gerade die Berliner Abschnitte des Buchs faszinierend. Detailliert und genau fächert Reiss das große Gemälde einer Epoche auf, die man aus tausend Geschichten schon zu kennen glaubt, die man aber noch nie aus der Perspektive eines vom Kaukasus zugewanderten Sohns eines verarmenden Multimillionärs geschildert bekommen hat. Das ist erstaunlich zum einen wegen der schieren Erfolgsgeschichte. Bey schafft es gegen alle Widerstände, sich nach ganz oben durchzuschreiben, wird ein international erfolgreicher Autor – und gibt sich außerdem als muslimischer Prinz aus, eine Kombination, die ihn unwiderstehlich für die Millionärstochter Erika Loewenthal macht, die er schließlich spektakulär heiratet. Sie verlässt ihn nach kurzer Ehe, als sie er sich weigert, mit ihr nach Amerika auszuwandern. Zum anderen überzeugt „Der Orientalist“ aber auch, weil Reiss die altbekannte Nationalgeschichtsschreibung so souverän unterläuft. Dafür muss man wohl Amerikaner sein – trotzdem hat Reiss natürlich recht, wenn er schreibt, die Übersetzung seines Buchs ins Deutsche sei die wichtigste.
Ungefähr gleich erschreckend sind die antisemitischen Angriffe der rechten deutschen Presse auf den „jüdischen Identitätsbetrüger“ Bey und seine Unfähigkeit, auf diese zu reagieren. Es liegt wohl an der Mischung aus seinem unversöhnlichem Kommunistenhass – schließlich haben sie seine Familie um ihr Vermögen gebracht – und einer tatsächlichen Weigerung, sich als jüdisch zu begreifen. Bey gibt sich ja nicht nur als muslimischer Prinz aus. Er tritt Ende der Zwanziger in der türkischen Botschaft in Berlin wirklich zum Islam über. Ein Maskenspiel, das Reiss an die lange Tradition des jüdischen Orientalismus anbindet. Eine Wunschvorstellung, das Judentum aus seiner west- und mitteleuropäischen Geschichte herauszulösen und in eine orientalische Kontinuität einzubetten.
Tom Reiss: „Der Orientalist“. Aus dem Amerikanischen von Jutta Bretthauer, Osburg Verlag, Berlin 2008, 504 Seiten, 25,90 Euro