: „Wir können keine Halle sperren“
Rund 60 Prozent der bundesweit überprüften Hallen sind schadhaft und damit latent einsturzgefährdet. Besonders die Gebäude aus den 60er und 70er Jahren. Die Ursache sei oft schlicht fehlende Wartung, sagt Stephan Kuß vom TÜV Nord
STEPHAN KUSS, 38, gelernter Bauingenieur, ist seit dem Jahr 2004 Branchenmanager für Gebäudetechnik beim TÜV Nord.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr Kuß, bei welchem Gebäudetypus ist die Einsturzgefahr am größten?
Stephan Kuß: Ohne Zweifel die in den 60er und 70er Jahren gebauten Hallen mit weit spannenden Flachdachkonstruktionen. Das liegt aber auch daran, dass diese Gebäude ein gewisses Alter haben und es keine gesetzliche Grundlage für ihre Prüfung gibt. Es reicht, dass das Gebäude nach dem Bau einmalig von einem Prüfstatiker untersucht wird.
Ist es nicht illegal, so nachlässig mit der Sicherheit der Menschen umzugehen, die diese Gebäude betreten?
Nein, und meist stehen die Gebäude ja auch jahrhundertelang, ohne dass es Probleme gäbe. Nach dem Halleneinsturz von Bad Reichenhall hat das Bundesministerium allerdings Empfehlungen zur Überprüfung von Dachkonstruktionen herausgegeben. Sie schlagen regelmäßige Sichtkontrollen sowie Überprüfungen in drei- bis zehnjährigen Abständen vor. Dies ist aber nicht verpflichtend.
Sind die Probleme bei den Dachkonstruktionen der 60er und 70er kontruktionsbedingt?
Nein, wartungsbedingt. Das liegt aber auch daran, dass die Deckenbalken nicht ohne weiteres einsehbar sind. Turnhallen etwa haben meist einen geschlossenen Deckenspiegel. Bei unseren Überprüfungen lassen wir deshalb Deckenteile abnehmen, um die statisch relevanten Bauteile darunter ansehen zu können. Was aber die generelle Wartung der Gebäude aus den 60er und 70er Jahren betrifft: Dort hat man in den letzten Jahren zu wenig Augenmerk auf die Wartung der Dach- und Deckenkonstruktionen gerichtet. Viele Gebäude wurden seit ihrer Entstehung nie mehr überprüft.
Welche Schäden sind bei diesen Hallendächern am häufigsten?
Ein massives Problem stellen die Kiesschüttungen dar. Die trägt man oft auf Flachdächer auf, um die Dachpappe zu schützen. Auf diesen Kiesschüttungen lagert sich Laub, sodass sich im Lauf der Zeit eine Humusschicht bildet. Wenn außerdem die Notüberläufe verstopft sind, entsteht auf dem Dach ein enormes Gewicht.
Die Funktion der Notüberläufe?
Sie sollten am tiefsten Punkt des Dachs liegen und das Wasser zu den Fallrohren hin ableiten. Oft sind die Notüberläufe aber verstopft, weil niemand aufs Dach geht und Laub oder Schmutz entfernt. Und wenn auf einem Gebäude, das 50 mal 50 Meter misst, 30 Zentimeter hoch das Wasser steht, ergibt das ein tonnenschweres Gewicht, das so statisch nie einkalkuliert war. Zudem können durch verstopfte Notüberläufe Feuchtigkeit im Bauwerk entstehen, sodass sich Risse bilden. Bei Stahlkonstruktionen kann auch die Bewehrung im Beton rosten. Dann ändert sich das Volumen, Beton platzt ab, und das ganze Gebäude kann geschädigt werden.
Wird die Wartung wegen ihres Aufwands vermieden?
Ich glaube, vor Bad Reichenhall war man für das Thema einfach nicht sensibilisiert. Denn aufwändig ist die Wartung ja nicht: Die Sichtkontrollen kann ein eigener Mitarbeiter durchführen. Und in größeren Zeitabständen sollte dasselbe eine fachkundige Person tun.
Wie groß ist die Gefahr von Halleneinstürzen deutschlandweit? Tickt da eine Zeitbombe?
Es gibt bundesweit ungefähr 40.000 Hallen. Nach Bad Reichenhall wurden viele von ihnen begangen. Die Mängel sind allerdings zahlreich: Bei 60 Prozent der von uns überprüften Hallen haben wir Schäden festgestellt.
Baut man Flachdächer inzwischen anders als in den 70ern?
Man hat Details verbessert: Inzwischen gibt es Leimbinderkonstruktionen, bei denen einzelne Brettschichten übereinander geleimt werden. Früher – etwa in Bad Reichenhall – verwandte man hierfür wasserlöslichen Leim, inzwischen gibt es aber bessere Kleber. Die Empfindlichkeit der Dächer der 60er und 70er hängt allerdings vor allem mit ihrem Alter zusammen.
Welche Gebäude sind sonst noch einsturzgefährdet?
Die Halle ist schon der zentrale Typus. Wobei der Begriff „Halle“ weit gefasst ist: Das können Sport-, Lager-, Reit-, Eissport-,Werkstatthallen, Verwaltungsgebäude, Theater und Kitas sein. Alle Gebäude, die aufgrund ihrer Funktion auf Stützen im Inneren verzichten und daher weit tragende Spannweiten haben.
Welche Auflagen machen Sie dem Betreiber, an dessen Halle Sie Mängel festgestellt haben?
Verpflichtende Auflagen können wir aufgrund der Gesetzeslage nicht machen. Uns hilft aber ein bisschen, dass man dem TÜV glaubt und das, was er sagt, auch umsetzt. Sperren können wir eine Halle nicht. Wir können es dem Betreiber nur empfehlen.