: Vom rituellen Verspeisen des Feindes im Krieg
Vor dem Sierra-Leone-Tribunal wird Liberias Expräsident Charles Taylor bezichtigt, Kämpfer zum Kannibalismus angestiftet zu haben. Die Aussage wirft ein Schlaglicht auf die verborgene Welt der Geheimbünde Westafrikas
Charles Taylor, Guerillaführer in Liberia 1989–1997 und Präsident 1997–2003, steht seit Juni 2007 vor dem UN-Sondertribunal für Sierra Leone, das in den Räumen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag tagt. Ihm wird in elf separaten Anklagepunkten vorgeworfen, während der gesamten Neunzigerjahre die Rebellenbewegung Revolutionary United Front im Nachbarland Sierra Leone militärisch, finanziell und logistisch unterstützt zu haben und damit für deren Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein. Die Zeugenanhörungen der Anklage begannen im Januar. D.J.
DEN HAAG taz ■ Beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat der Kriegsverbrecherprozess gegen Charles Taylor vor einer Strafkammer des Sondertribunals für Sierra Leone eine dramatische Wendung genommen. In einer zum Teil haarsträubenden Zeugenaussage, die sich über drei Tage hinzog, belastete ein enger Vertrauter den früheren Präsidenten Liberias und Kriegsfürsten schwer. In sachlichem Ton berichtete der Zeuge von unzähligen Morden, unter anderem an Kindern und schwangeren Frauen, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten in Sierra Leone, Liberia und Guinea, die er alle auf Befehl Taylors begangen haben will. Besonders ausführlich schilderte Joseph „Zigzag“ Marzah, der Taylor über zehn Jahre diente, Kannibalismus in einer Vielzahl von Fällen, ebenfalls auf ausdrückliche Anordnung von Charles Taylor.
So konnte man in dem sterilen Sitzungssaal im Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag einen Einblick in Abgründe der menschlichen Natur erhaschen, die meist verborgen bleiben. Seit 7. Januar diesen Jahres wurden im Taylor-Prozess bereits zwanzig Zeugen gehört. Dies waren sowohl Täter als auch Opfer, die von Zwangsarbeit, sexueller Gewalt, Mord, Amputation von Gliedmaßen und Plünderungen berichteten und Taylor zum Teil schwer belasteten. Keinem dieser Zeugen gelang es jedoch, Taylor aus der Ruhe zu bringen, der immer tadellos gekleidet im dunklen Anzug mit Krawatte konzentriert Notizen machte und seinen Anwälten Anweisungen gab.
Dieses Bild des zu Unrecht angeklagten Staatsmannes hat jetzt erste Risse bekommen. Taylor hörte mit angewiderter Miene den sehr überzeugend wirkenden Ausführungen Marzahs zu kannibalistischen Ritualen eines Geheimbundes, des poro, zu, dessen Anführer er, Taylor, gewesen sein soll. Auf Anordnung Taylors wollte der Zeuge auch getötete oder hingerichtete Feinde verspeist haben, unter ihnen gefangene Soldaten der nigerianischen Friedenstruppe. Marzah beschrieb, wie Taylor und seine engsten Vertrauten bei Ritualen ihrer poro-Gesellschaft die Herzen ermordeter Konkurrenten aßen und im Jahre 1995 ein okkultes Ritual auf dem Strand außerhalb Monrovias, der Hauptstadt Liberias, veranstalteten. Dabei soll eine schwangere Frau lebendig begraben und ein lebendes Schaf von den anwesenden Kämpfern mit bloßen Händen in Stücke gerissen geworden sein. Auf Nachfrage von Taylors Anwalt, Courtenay Griffiths, sagte Marzah, er „bereue nichts“, da er auf Anordnung seines „Führers“ Taylor gehandelt habe.
Kannibalismus und Rituale eines Geheimbundes? Dies scheint längst überwunden geglaubte Vorurteile über Afrika zu bestätigen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Unter dem Begriff poro werden eine Vielzahl in ganz Westafrika verbreiteter Geheimbünde zusammengefasst. Die poro-Geheimbünde, denen nur Männer angehören, erfüllen wichtige Aufgaben bei der Initiation von Jungen und allen Aspekten des politischen und religiösen Lebens. Vor der Ankunft staatlicher und kirchlicher Bildungsinstitutionen waren sie die zentrale Erziehungsinstitution.
Obwohl die Wurzeln des poro mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, ist der heutige poro ein modernes Phänomen, das während des Kontakts zwischen den ersten Siedlern Liberias und Sierra Leones, freigelassenen Sklaven aus den USA, mit den dort lebenden Bevölkerungen im 19. Jahrhundert entstand. In Liberia war der poro ein Versuch der indigenen Bevölkerung, die Kolonisten und deren Staat in die lokalen Verhältnisse einzubinden. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass der poro in vielem den bei den schwarzen US-Siedlern weit verbreiteten Freimaurerlogen und deren Ritualen glich. In den 1950er-Jahren versuchte der liberianische Staat, den poro bei der Ausweitung seiner Herrschaft über das Hinterland einzusetzen.
Diese Bestrebungen gipfelten darin, dass der Präsident Liberias seit den 1950er-Jahren auch das Oberhaupt aller poro-Bünde des Landes ist. Der poro wandelte sich somit von einer Institution, mit der die Bevölkerung die Vertreter des Staates zu kontrollieren versuchte, zu einem Instrument, mit dem der Staat versuchte, seine Herrschaft über die Bevölkerung auszudehnen.
Es gibt keinerlei Hinweise auf Kannibalismus in diesen regulären poro-Geheimbünden. Jedoch gab es seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder Berichte über in noch größerer Verborgenheit operierende Geheimbünde, den „Leopardmenschen“ oder „Alligatormenschen“, die angeblich magischen Kannibalismus praktizierten, um ihre mentalen und physischen Kräfte zu mehren. Berichte über die Aktivitäten dieser Geheimbünde sind auch im 20. Jahrhundert immer wieder aufgetaucht, es kam auch zu vereinzelten Prozessen in beiden Ländern. Seit dem 16. Jahrhundert spielte in dieser Region eine weitere Form von Geheimbünden eine wichtige Rolle bei der Kriegsplanung und -führung. Diese exklusiven Bünde, in manchen Gegenden unter dem Namen wunde bekannt, waren nur ausgewählten Mitgliedern der poro vorbehalten und praktizierten nach zeitgenössischen Berichten magischen Kannibalismus in ihren Kriegszeremonien.
Es ist anzunehmen, dass der während der Bürgerkriege in Sierra Leone und Liberia vorkommende Kannibalismus eine Fortsetzung dieser zeremoniellen Aspekte der Kriegsführung in Westafrika darstellt. Es wäre jedoch vorschnell, diese Phänomene einfach dem Bereich der Tradition zuzuschlagen, wie die Geschichte des poro in Liberia zeigt. Sollte die Aussage des Zeugen „Zigzag“ zutreffen, stand Taylor an der Spitze eines komplexen Herrschaftssystems, bei dem er sowohl Anführer einer bewaffneten Gruppe als auch der spirituelle Führer einer Geheimloge war. Der Kannibalismus, bei dem die Mitglieder des Bundes zusammen einen Mord begehen und das Herz des Feindes gemeinsam verspeisen, wäre hierfür ein äußerst wirksames Mittel. Eine dritte Dimension dieses Herrschaftssystems wäre dann der durch den Bürgerkrieg ausgehöhlte Staatsapparat Liberias, den er von 1997 bis 2003 als Präsident führte.
Der weitere Verlauf des Prozesses wird hoffentlich zeigen, ob die Schilderungen Marzahs „ein Produkt seiner Einbildung“ waren, wie ihm Griffiths vorwarf, oder ob hier eine dunkle Seite der an Gräueltaten wahrlich nicht armen Kriege Westafrikas ans Licht gebracht wurde.
GERHARD ANDERS
Dr. Gerhard Anders ist Oberassistent und Lehrbeauftragter am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich