Der Tänzer und das Frontschwein

Der Hamburger Journalist Roger Repplinger erzählt die Lebensgeschichten des Fußballers Otto „Tull“ Harder und des Boxers Johann „Rukeli“ Trollmann. Ihre Wege kreuzen sich in Neuengamme, wo der eine als Täter landet und der andere als Opfer

Rukeli weiß, dass die Offiziellen ihn nur noch als Opfer im Ring dulden. Er färbt sich die schwarzen Locken hell und wird verprügelt.

VON RALF LORENZEN

Doppelbiografien gibt es über Marx und Engels, die Mann-Brüder sowie Vater und Tochter Freud – Protagonisten also, die lange Wegstecken gemeinsam verbracht haben. „Als er eines Abends nach dem Training vom SS-Lager ins Häftlingslager gebracht wird, steht einer gegen das Tor der SS-Garage gelehnt und raucht. Ein Großer, Schlanker, ein paar graue Haare.“ Das ist der einzige Moment, in dem sich die beiden Männer treffen, über die Roger Repplinger in seiner Doppelbiografie „Leg dich, Zigeuner“ schreibt.

Die Leben des Boxers Johann Trollmann und des Fußballers Otto Harder bewegen sich über Jahrzehnte aufeinander zu. Beide sind frühe Helden junger Sportarten, an deren Aufstieg zu Massenveranstaltungen sie beteiligt sind, und beide geraten in die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie, der eine als Opfer, der andere als Täter. Auf dem Weg, der beide nach Neuengamme führt, durchmessen sie sportliche, soziale und politische Räume, deren eindringliche und genaue Beschreibung sich zu einem komplexen Portrait eines halben Jahrhunderts fügt.

Der 1892 in Braunschweig geborene Otto Harder muss seine auf der Straße entflammte Liebe zum Fußball gegen die Prügel des kaisertreuen Vaters verteidigen. Das ändert sich erst, als der Nachweis gelingt, dass „das Treten des Balles auch für die Schulung des militärischen Nachwuchses nutzbringend anzuwenden ist.“ „Tull“ nennen ihn die Mitspieler bei Eintracht Braunschweig, weil er Haken schlägt wie Walter Daniel Tull, dessen Club Tottenham Hotspurs 1910 in Braunschweig gastiert.

Kurz vor dem ersten Weltkrieg bestreitet Tull als Spieler des Hamburger Fußball-Club 88 sein erstes Länderspiel gegen die Niederlande. Noch mehr begeistert Tull der Beginn des Ersten Weltkriegs. „Der Schützengraben gibt ihm ein tiefes Gefühl. Er fühlte sich nie so sehr in der Gegenwart wie im Schützengraben“, schreibt Repplinger. „Tull Harder ist ein Frontschwein.“

Er kassiert zwei Eiserne Kreuze und drei Verwundungen und wird nach Kriegsende in der Weimarer Republik nicht heimisch. Dafür wird er zum Star des neu gegründeten Hamburger Sportvereins und der Nationalmannschaft. Nach seinem Karriere-Ende, das er trotz ungesundem Lebensstil und Formschwankungen bis zum 42. Lebensjahr hinauszögert, schreibt der Kicker: „Ein Volksliebling war er.“

Und das will er weiter sein. „Man muss etwas tun für das Land, dann bekommt man etwas dafür: Anerkennung, Kameradschaft“, schreibt Repplinger. „Das kennt er aus dem Krieg, das war so beim Fußball.“ Und das findet er nun in der SS. Der Nationalsozialismus habe Tulls Leben „das Unberechenbare“ zurückgegeben. Er ist ein Abenteurer, der es versteht, sich in den entscheidenden Momenten rauszuhalten. Von der Bewachung des KZ Sachsenhausen über die Leitung der Geräteausgabe in Neuengamme bis zur Leitung der Außenlager in Hannover- Stöcken II, Hannover-Ahlem und Ülzen: Nie hat jemand den Untersturmbannführer Harder eine unmenschliche Handlung ausführen sehen, während in seinem direkten Verantwortungsbereich tausende gequält und ermordet werden.

Einer davon ist der Sinto Johann Trollmann. 1907 im Armenviertel von Hannover als Sohn eines Schirmmachers geboren, erhält er wie alle Sinti einen Spitznamen in Romanes. „Rukeli“ wird er genannt, nach „Ruk“, dem Baum, denn er ist gut gewachsen. Als er mit acht zum Boxen geht, hat Vater Schniplo nichts dagegen. Rukeli lässt sich auch von Niederschlägen nicht umhauen und sammelt in den nächsten Jahren für den BC Heros so viele Punkte, dass die überregionale Presse auf ihn aufmerksam wird.

In die Bewunderung mischt sich zunehmend Ablehnung, denn für Journalisten, die an Ringschlachten interessiert sind, ist Rukelis abwartender, tänzelnder Kampfstil eine Provokation: „Das ist nicht männlich, aber gerade Frauen, die immer zahlreicher bei seinen Kämpfen am Ring sitzen, finden das schick. Was Trollmann macht, erinnert sie an Tanzen.“

Das Publikum liebt ihn, aber die rassistischen Ressentiments nehmen zu. Die Situation eskaliert, als Trollmann am 9. Juni 1933 in Berlin zum Titelkampf der Profis im Halbschwergewicht antritt. Obwohl er nach zwölf Runden auf den Punktzetteln deutlich führt, verkündet der Ringrichter auf Einflüsterung der um den Ring versammelten Funktionäre das Urteil: Ohne Entscheidung.

Erst auf massiven Druck der Fangemeinde wird der weinende Rukeli doch noch zum Deutschen Meister gekürt, verliert den Titel aber kurz danach am grünen Tisch.

Rukeli weiß, dass die Offiziellen ihn nur noch als Opfer im Ring dulden und reagiert in den nächsten Kämpfen auf seine Weise. Er „ färbt sich die schwarzen Locken hell und streicht Puder auf die Haut“. Er kämpft deutsch, Fuß an Fuß, ohne zurückzuweichen – und wird verprügelt.

Dasselbe widerfährt ihm zehn Jahre später in Neuengamme. Nach Diskriminierung und Verfolgung, nach Untertauchen und ein paar Monaten Kriegsdienst ist Rukeli 1943 endgültig in den Fängen der Vernichtungsmaschine gelandet. Als ihn in Neuengamme ein SS-Mann erkennt, der früher Ringrichter war, muss der zum „Muselmann“ abgemagerte Rukeli die SS-Leute trainieren und sich regelmäßig von ihnen verprügeln lassen.

Bevor er ganz totgeschlagen wird, schafft ihn das illegale Lagerkomitee mit einem Trick ins Nebenlager Wittenberge. Dort sind die Bedingungen etwa besser, dafür trifft er den Kapo Emil Cornelius wieder. Zum Gaudi der Häftlinge wird ein Kampf zwischen den beiden arrangiert. Cornelius verliert und erschlägt Rukeli mit einem Knüppel.

Die wahre Todesursache ist eine der vielen neuen Fakten, die Repplinger zu Tage fördert. In jahrelanger Arbeit hat der Journalist Zeitzeugen und Wissenschaftler befragt, Quellen, Gerichtsakten und Literatur studiert. Dieses Material komponiert Repplinger über 360 Seiten vielschichtig und anschaulich. Neben fiktionalen Elementen, historischen Abrissen und Prozessberichten stehen spannende Sportreportagen, die biografischen Hauptstränge sind eingebunden in ein Geflecht von Kurzbiografien bekannter und unbekannter Zeitgenossen. Zusammengehalten wird alles durch kluge Analysen der zivilen und repressiven Staatsapparate.

Harder wird 1947 im Curio-Haus, in dem er früher mit dem HSV die Erfolge gefeiert hat, wegen Kriegsverbrechen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt, von denen er viereinhalb absitzt. Harder stirbt 1956. „Wir werden dich als einen der Großen in Ehren halten, die den Ruhm des HSV begründeten“, sagt der HSV-Vorsitzende Heinz Mahlmann auf der Trauerfeier im Krematorium Ohlsdorf.

Ferdinand und Manuel Trollmann bekommen 2003 vom Bund Deutscher Berufsboxer einen Meistergürtel überreicht. Johann Trollmann, nach dem 2004 in Hannover eine kleine Straße ohne Häuser benannt wurde, ist wieder Deutscher Meister im Halbschwergewicht 1933. Repplinger schreibt: „70 Jahre und zwölf Runden dauerte der Kampf.“

Roger Repplinger: „Leg dich, Zigeuner“, Piper Verlag, 376 Seiten