: Ewiges Problem Gesellschaftsanalyse
Wer keinen Begriff von sozialer Krise hat, kommt bei Tschechow in Schwierigkeiten. So lässt einen die „Onkel Wanja“-Inszenierung, die Jan Hein und Thorsten Lensing in die Sophiensæle bringen, auch kalt. Trotz toller Schauspieler
Einiges wurde uns versprochen – das Regieteam Jan Hein und Thorsten Lensing hat wieder inszeniert, das Ensemble ist für eine freie Produktion mit einer Reihe von bemerkenswerten Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt. Die Kritiken aus Münster, wo das Stück im Theater im Pumpenhaus Premiere feierte, ließen hoffen, und nicht zuletzt gibt’s Tschechow: „Onkel Wanja“.
Und wirklich, die Darsteller geben sich dem Spiel mit viel Engagement hin, es wird gebrüllt, geküsst, gedrückt, um sich gespritzt, Schweiß fließt und Tränen und einige hundert Meter werden von den Hauptdarstellern sinnend, stöhnend oder verzweifelt gelaufen. Tschechow bietet in seinen „Szenen aus dem Landleben“ das ganze Panorama des bürgerlich-großbäuerlichen Seelenwehs, hier ist der alte Professor, dessen Werk nichts taugt und der die von der Großmutter so vehement bewahrte Ordnung hintertreibt, da ist seine schöne junge Frau, die unter ihm leidet, hier ist die Tochter aus erster Ehe, eine zupackende, aber hässliche Frau, die den örtlichen Arzt liebt, dort wiederum der Arzt, der die Professorengattin begehrt, hier der kleine verarmte Mann, der dienen muss, um sich sein Gnadenbrot zu verdienen, und schließlich Onkel Wanja, der sich für den Professor aufgeopfert hat und nun erkennt, dass er betrogen ist und sich betrogen hat. Zwingt man all diese Leute an einem schwülen Sommertag zusammen, wird auch der auf ein Gewitter folgende Regen nicht die Erlösung bringen.
Und tatsächlich, auch bei Lensing und Hein löst sich nichts auf. Merkwürdig ist nur, dass die Konflikte sich auch nicht wirklich entwickeln. Zwar rennt Josef Ostendorf, der den Onkel Wanja spielt, mit schön gehemmter Aggressivität Ursina Lardi, die die kaputte Professorengattin gibt, hinterdrein, zwar hat Devid Striesow als betrunkener Arzt einen glanzvollen Auftritt im zweiten Akt, zwar darf Ursula Rennecke, die die mit Bauarbeiterhandschuhen schnell charakterisierte Professorentochter spielt, plötzlich und durchaus anrührend aus der Rolle fallen, doch dort, wo sich Tschechow auf die Intelligenz seines Publikums verlassen durfte und sich mit Andeutungen begnügen konnte, geht es bei Lensing und Hein stets körperlich zur Sache: Die Schauspieler dürfen nicht begehrlich schauen, sie müssen kleinkindergleich greifen, sie dürfen nicht zittern, sie müssen rennen, sie dürfen nicht stottern, sie müssen schreien. So wird die Chance, die man mit diesen durchweg guten Darstellern hat, vertan – sie müssen ihre Fähigkeiten nicht ausloten, sondern dürfen sich in Rotwein und Wasser auf dem Boden suhlen. Dass sie das mit Freude tun, hilft dem Stück nicht weiter.
Lensing und Hein, heißt es im Ankündigungstext, wollen der Frage: „Wie entsteht unsere Normalität?“ auf den Grund gehen. Aber dort, wo sich Tschechow auf die bürgerliche Moral stützen kann, auf einen gesellschaftlichen Konsens, innerhalb dessen sein Drama die Konfliktlinien findet, ist das Stück bei Lensing und Hein nur noch von allgemein menschlicher Verzweiflung geprägt, die herausgebrüllt und hervorgelallt wird, bis man nach vier Akten nur noch ermüdet ist vom Elend. Das Ende des Stückes, das den Zwang, „weitermachen“ zu müssen, betont, geht schon in der Aufbruchsstimmung des Publikums unter.
Die Inszenierung leidet trotz toller Schauspieler und einiger schöner Bilder darunter, dass Lensing und Hein denken, sie und ihr Publikum wüssten schon, worum es geht, und ein gesellschaftlicher Konsens wäre bereits hergestellt, bevor das Stück seinen Verlauf nimmt. Doch angesichts von Patchworkgesellschaft oder kapitalismusbedingter Depression, von denen man allerorten lesen kann, ist diese Annahme reichlich naiv. Eine Frau heiratet den Falschen, na und? – lässt sie sich eben scheiden. Sex mit dem Nachbarn? – hab ich auch. Zerstörte Illusionen, Suff, Depression? – ist mein Leben! Vor diesem Hintergrund aber lässt einen das Gewerke im Vordergrund kalt.
JÖRG SUNDERMEIER
„Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben“. Sophiensæle, Sophienstr. 18. Nächste Vorstellungen 27.–30. März