piwik no script img

Archiv-Artikel

Pornopolytoxikomanie

Der ultimative Roman zum Untergang der Musikindustrie! Meint der Verlag. Aber „Kill Your Friends“ von John Niven ist mehr: Das Buch ist ein Splatterthriller über die neuen Triebökonomien

Unter den vergnügungssüchtigen und zynischen Musikmanagern ist Nivens Hauptfigur der süchtigste und zynischste

VON KLAUS WALTER

„Nach meinem Examen in den frühen Neunzigern war ich mir über zwei Dinge klar: Erstens: Ich wollte keinen normalen Job. Zweitens: Nach vier Jahren Uni und zwei Jahren als Gitarrist einer mittellosen Indieband wollte ich Geld verdienen. Ich war gleichermaßen faul und habgierig, also, ohne es zu wissen, prädestiniert für eine Karriere im Musikgeschäft.“

Karriere hat er gemacht, der Schotte John Niven. Im Herbst 1995 sieht er bei einer Party die Easy-Listening-Band Mike Flowers Pops. Kurz darauf hört er deren Version des Oasis-Songs „Wonderwall“ in einer angesagten Radioshow. Er nimmt Flowers unter Vertrag, und ein paar Wochen später ist eine halbe Million von „Wonderwall“ verkauft. Das reicht, um John Niven zum A-&-R-Manager bei der Plattenfirma London Records zu machen.

A & R steht für artist and repertoire, das heißt, er ist dafür zuständig, neue Talente zu finden und zu entwickeln. Dafür gibt’s ein sechsstelliges Jahresgehalt (wir reden von Britischen Pfund in den Neunzigern), einen BMW und ein unbegrenztes Spesenkonto. A & R – das heißt für Niven: rund um die Welt fliegen auf einer Diät aus Wodka und Kokain und einen Haufen Geld verdienen. Zwei Treffer der Güteklasse Mike Flowers in drei, vier Jahren geben dem A-&-R-Manager seine Daseinsberechtigung. Ein Hit der Marke „Wonderwall“ entschädigt für alle Flops. Und für Fehler. So einen hat Niven gemacht.

„Wer will denn so einen drittklassigen Radiohead-Verschnitt?“, poltert er in der Abhörkonferenz. Dort wird entschieden, wer einen Plattenvertrag bekommt und wer nicht. Der drittklassige Radiohead-Verschnitt bekommt keinen. Heute kennt man ihn unter dem Namen Coldplay. Damit rangiert Niven in den Geldvernichtungscharts knapp hinter dem A & R der Firma Decca, der 1962 vier jungen Typen aus Liverpool keinen Vertrag geben wollte. Der Kollege von EMI wollte. Der Rest ist Geschichte. Inzwischen ist John Niven aus dem Musikgeschäft ausgestiegen und hat einen Romanhit gelandet. In „Kill Your Friends“ zeichnet er die schmutzigsten Seiten des schmutzigen Geschäfts noch schmutziger, als wir es uns in unseren schmutzigsten Träumen vorstellen.

Niven schlüpft in die Rolle des A-&-R-Managers Steven Stelfox. Unter den bilderbuchmäßig polytoxikomanen, vergnügungssüchtigen und zynischen Menschenverächtern seiner Haifischbranche ist er der polytoxikomanste, süchtigste und zynischste. Seine Jobqualifikation: „Jemand, der seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, den Geschmack von Millionen geschmacklosen Schwachköpfen zu antizipieren und zu modellieren, muss sich im Klaren darüber sein, dass seine Gefühle so universell sind, dass die Dinge, die er denkt und fühlt, von Millionen von anderen Menschen gedacht und gefühlt werden.“ (Denkt Dieter Bohlen so?) Stelfox denkt und fühlt: Sex, Sex, Sex, Drogen, Drogen, Drogen. Langeweile bekämpft er mit einer Denksportübung. Wie viele Namen für Kokain fallen ihm ein? „Chang, Koks, Coca, Schnee, Charlie, Fickpuder, Perico, peruanisches Marschierpulver, Türkenzucker, Nuttendiesel?“

Auf die Frage einer Freundin woran er gerade denkt, antwortet Stelfox: „Ich denke an nichts anderes als Knete und Ficken, aber das darf man ja nicht laut sagen? Freundinnen stehen total auf diese Gesprächsnummer.“ Stelfox will keine Freundin. Sie würde wohl nicht akzeptieren, „dass du freitagabends von der Arbeit kommst und beinahe 2.000 Pfund für Koks, Crack, Schnaps, Viagra und Nutten auf den Kopf haust – die Art von Ausgehvergnügen, die erst am folgenden Nachmittag in einer albanischen Bumsbude enden – bis zu den Eiern in illegalen Immigranten steckend.“

So geht das fast vierhundert Seiten. Aber es wird nicht langweilig, komischerweise. Niven greift zurück auf den kokainbetriebenen Sound von Julie Burchill und Tony Parsons aus den späten Siebzigern. Als Teenager heuern beide beim New Musical Express an und betreiben einen hochsubjektiven embedded journalism aus dem Inneren der Punkrevolte. Das Rockestablishment strafen sie mit all der nihilistischen Verachtung, zu der hassende Teenager fähig sind. Vor allem ehedem rebellische Hippies, die sich mit dem System arrangiert haben, trifft ihre Wut. Bei Burchill und Parsons speist sich der Zorn aus der jugendlichen Gier nach Neuem, aus der Faszination von Punk.

Der desillusionierte Mittdreißiger Stelfox dagegen hat schon alles gesehen, sein Hass gilt einem System, das seine Protagonisten zu Arschlöchern macht, und wenn er schon ein Arschloch sein muss, dann wenigstens das größte. Was die saturierten Hippies für Burchill und Parsons sind, sind für Stelfox treuherzige Indiekids, „die atonale B-Seiten anhören und über Tom Verlaines Gitarrensoli quatschen“. Das hat er hinter sich, für ihn ist Musik nur noch Mittel zum Zweck. Auf der Suche nach dem nächsten Hit findet er ein „kribbliges, kleines Scheibchen pornografischen Dancefloor-Schwachsinns“ von drei Raggaschlampen, „die Sorte Unterschichtensäue, die schon mit einundzwanzig unfickbar werden“. Von denen kommt das Geld für fickbare Nutten und besseres Koks. In seiner demonstrativen Amoralität ist Stelfox ein Wiedergänger von Bret Easton Ellis’ „American Psycho“, auch er wird zum Mörder, kommt aber ungestraft davon. In puncto Drastik und Drogen ist Nivens Roman ein Nachfahre von Hunter S. Thompsons „Fear And Loathing in Las Vegas“, dem Flaggschiff des sogenannten Gonzojournalismus. Neu an Nivens Gonzoismus ist die Verbindung von Polytoxikomanie und Pornografie.

Stelfox ist besessen von Porno, insbesondere von dem, was seit einigen Jahren unter dem Namen Gonzopornografie den guten alten erotischen Film vom Markt verdrängt: billigen Filmen für den schnellen Konsum, keine Handlung, purer, harter Sex, gerne mit erniedrigten Frauen. Wenn er nicht gerade Pornos guckt, versucht Stelfox „auf möglichst versaute und erniedrigende Weise zu vögeln“. Dabei helfen ihm die Drogen, vor allem die Kombination von Koks und Viagra, manchmal auch Ecstasy.

Dabei macht Niven einen produktiven Fehler. Der Roman spielt 1997, im Jahr der popgestützten Machtübernahme von Tony Blairs Cool Britannia. Viagra kommt 1998 auf den Markt und etabliert sich erst in diesem Jahrhundert als Sexdroge. Auch Gonzopornografie ist erst seit ein paar Jahren populär. Dasselbe gilt für den Boom von Amateurpornos via Digital- und Handycam. All das hat Niven vor Augen – oder führt er uns vor Augen –, wenn er in Splatter-Gonzo-Manier Sexorgien schildert, die dank Viagra und Koks ins Unendliche gestreckt werden, um dann doch schon mal in einem blutigen Mord zu enden. Und gefilmt wird das Ganze auch noch, als Teil einer raffinierten Intrige, mit der Stelfox sich einer drohenden Mordanklage entzieht.

Mit der gewissermaßen technoid repetitiven Verknüpfung von Polytoxikomanie und Pornografie im entgleisenden Leben des Steven Stelfox 1997 gelingt Niven eine schöne (Über?)zeichnung neuer Triebökonomien, wie sie zumindest in bestimmten Segmenten des neoliberalen Alltags am Werk sind.

Wenn sich relevante Minderheiten oder bald potenzielle Mehrheiten die Diktate von Leistungsoptimierung, Körperoptimierung und Sexoptimierung zu Eigen machen, sie verinnerlichen, dann wird die Kombination der kulturellen Praxen Polytoxikomanie und Pornografie zu einer verbreiteten Erfahrungsmatrix. In ihrer Redundanz, Wiederholung und Drastik ist die Erzählweise von „Kill Your Friends“ dem Porno abgeschaut, Kick auf Kick, einer toppt den nächsten. Sicher kennt Niven Amateurpornos von Technopartys. Wet-T-Shirt-Wettbewerbe, die aus dem Ruder laufen. Was war zuerst da? Die Kameras? Die Drogen? Die Party? Das Drehbuch? Darsteller oder Raver? Machen die das freiwillig? Reality-TV oder working po(o)rno? Über allem schwebt die Vorstellung von Machbarkeit. Just do it! Das Fitnesscenter als Drogenumschlagplatz.

John Niven: „Kill Your Friends“. Heyne Hardcore, 352 Seiten, 12 €