Uli Hannemann, Liebling der Massen
: Fango und freier Wille

Langsam kommt mir die Sache komisch vor. Ich glaube nämlich, dass die zwanzig Minuten längst vorbei sind, doch ohne Uhr habe ich ein schlechtes Zeitgefühl. Mit einer warmen Fangopackung liege ich in eine Decke eingewickelt auf meiner Liege im Verschlag einer großen Praxis für Krankengymnastik am Hermannplatz. So richtig warm ist der Schlamm eigentlich nicht mehr. Das Zeug hat seinen Zweck erfüllt, jetzt könnte ich gehen. Aber ich darf nicht. „Zwanzig Minuten“, hat der Krankengymnast gesagt, „dann kommt eine Kollegin und befreit Sie“, und was der Krankengymnast gesagt hat, muss ich befolgen. Wenn ich es nicht tue, gefährde ich den Genesungsprozess. Ich werde angeschrien und aus der Krankenkasse geworfen.

Besser, ich bleibe liegen. Bestimmt kommt bald jemand und holt mich hier raus. Ich lausche den Geräuschen auf dem Gang. Schritte kommen näher und entfernen sich wieder. Zweimal schiebt eine Mitarbeiterin den Vorhang ein Stück beiseite und ruft: „Ach nee, der ist es nicht!“ Zweimal schließt sie den Vorhang wieder und zweimal entfernt sie sich. Es sieht fast so aus, als hätte ich endlich mal so richtig Zeit zum Nachdenken. Fragt sich nur, was? Was nützt einem wie mir das Denken? Denken macht mich bloß traurig.

Und weiter lausche ich den Schritten: tripptrapp, tripptrapp, trapptripp. Draußen wird es langsam dunkel. Ich muss aufpassen: Irgendwann werden die Schritte nur noch in eine Richtung trippeln und trappeln, nach links an mir vorbei, Richtung Ausgang. Dort im Personalzimmer werden sie sich umziehen und gehen, einer nach dem anderen, zur Tür hinaus, trapptripp, tripptrapp, klapp! Tripptrapp, trapptripp, klapp! Und Stille.

Dann werde ich hier ganz allein sein, einen langen Abend lang und eine lange Nacht. Vermutlich werde ich denken: Hätte ich bloß mal was gesagt oder wäre entgegen den Anweisungen eigenständig aufgestanden. Ein Holländer zum Beispiel hätte das gemacht. Die sind alle so libertär dort. Wer in Holland vergessen wird, steht einfach auf, beschwert sich und geht. Ich beneide die Holländer um ihre Fähigkeit, sich frei zu entscheiden. Da haben wir Deutsche eine völlig andere Mentalität: schwermütig, schicksalsergeben und obrigkeitshörig. Wenn mir jemand sagt: „Bleiben Sie liegen, bis Sie jemand befreit“, dann bleibe ich liegen, bis mich jemand befreit. Und wenn mir jemand sagt: „Bleiben Sie liegen, bis Sie schwarz werden“, bleibe ich liegen, bis ich schwarz werde. Wenn es sein muss, bis zum Tod. Vielleicht werde ich dann ja wenigstens schwarz. Auftrag erfüllt, aber gesund ist das nicht.

Ich hab doch gesagt, dass mich Denken traurig macht. Ich werde sehr traurig sein in der Nacht, einsam in meinem Verschlag, mit nichts als einer erkalteten Fangopackung im Rücken. Wahrscheinlich werde ich mir wünschen, ich hätte entschlossener und unbürokratischer gehandelt, doch dann ist es zu spät. Es wird kalt sein unter meiner Decke, die Fangopackung wird gefrieren und ich sehne mich nach dem Moment, da ich am nächsten Morgen endlich den Schlüssel in der Eingangstür höre. Zu schwach, mich selbst zu befreien oder überhaupt nur zu rufen, bleibe ich davon abhängig, ob ich entdeckt werde, und zwar ohne dass es wieder nur heißt: „Ach nee, der ist es nicht!“

„Warum stehen Sie denn nicht von allein auf?“, schlägt die Krankengymnastin die Decke auf und die Hände überm Kopf zusammen. Ich kann noch gar nicht richtig antworten, so kurz nach dem Aufwachen, deshalb lasse ich es sein.