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: Als die Eltern sich kennenlernten

In der zweiten Hälfte geht „Syndromes and a Century“ von Apichatpong Weerasethakuls noch einmal von vorne los

Eine Szene: Ein Zahnarzt, der einen Mönch behandelt. Der Mönch erzählt davon, wie wenig er eigentlich Mönch sein will, davon, dass eine ihm unbekannte Kraft ihn gezwungen hat, die Kutte überzuziehen. Der Zahnarzt erzählt davon, dass er in seiner Freizeit Thai Country Songs singt. Eine andere Szene: Eine junge Ärztin sitzt einem anderen, sehr viel älteren Mönch gegenüber, der ihr von Träumen mit Hühnern erzählt und von seiner Kindheit, in denen er Hühnern die Beine gebrochen hat. Dieselbe Ärztin haben wir vorher gesehen, als sie einen anderen Arzt examinierte, der neu in das Krankenhaus kam, das der Schauplatz von „Syndromes and a Century“ ist.

Der Schauplatz der ersten Hälfte. In der zweiten Hälfte nämlich geht der Film noch einmal von vorne los. Mit einer anderen Ärztin, die einen anderen Arzt mit beinahe denselben Worten examiniert und dann einen anderen älteren Mönch behandelt, der etwas von Hühnern erzählt. Mit einem anderen Zahnarzt, der einen anderen Mönch behandelt. Dieser Zahnarzt aber singt keine Country-Songs. Das Krankenhaus des zweiten Teils liegt nicht, wie das erste, in sattgrüner Dschungellandschaft, sondern als Betonblock zwischen Betonblöcken in der Großstadt. Der zweite Teil von „Syndromes and a Century“ ist eine Wiederholung des ersten, aber je länger er dauert, desto gravierender werden die Abweichungen.

Die Eltern des thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul sind Ärzte, und er selbst erinnert sich an eine Kindheit und Jugend im Umfeld von Krankenhäusern. „Syndromes and a Century“ ist dennoch weniger ein autobiografischer Film als ein Film über das Autobiografische. Weerasethakul imaginiert darin jenen Moment im Leben der Eltern, an den sich kein Sohn der Welt erinnern kann: den Moment, in dem sie sich kennenlernten. Aus dieser Urszene wird hier eine Meditation übers Erinnern und das Erzählen und darüber, wie man Erzählungen erinnert und in seiner Fantasie bebildert. Was arg theoretisch klingt, aber keineswegs ist.

Licht flutet durch die Bilder vom Krankenhaus in grüner Natur. Starr ist die Kamera, von großer Klarheit und Schönheit ist das, was sie zeigt. In einem der vielen Seitentriebe des Films sehen wir einen Liebhaber und Züchter von Orchideen. Auf dem Krankenhausgelände findet er in einem Baum eine nicht sehr beeindruckende Orchidee, über die er sagt: Man erkennt ihre Schönheit nicht auf den ersten Blick, viele meinen, es fehle ihr an Form. In diesen Mann verliebt sich, denkt man, die Ärztin, in die sich, wie man sieht, ein anderer verliebt hat. Man kann diese Orchidee als Bild nehmen für diesen Film, der sich jedem Versuch, ihn auf einen schlichten Nenner zu bringen, so sanft wie elegant sofort wieder entzieht.

Etwa ins Krankenhaus in der Stadt. Hier gerät die Kamera in Bewegung, sie schleicht durch die Räume, darunter ein dunkles, unheimliches Ambient-Brummen. Der Keller, in dem Militär-Patienten untergebracht sind, wird zum eigentlichen Schauplatz, in dessen neonbeleuchteten Gängen der Film sich verliert. In einem Raum mit Maschinen hängt ein merkwürdiger Absaugrüssel, der für lange Momente die Bilder, die Geschichte, den Sinn, ja, den ganzen Film in sich hineinzuziehen scheint. Aber auch diesen unheimlichen Seitenpfad lässt „Syndromes and a Century“ hinter sich und springt vom Obskuren zurück ins Profane, vom Neon- ins Tageslicht. Wie stets bei Weerasethakul durchdringen sich das Tolle und das Schöne, das Flache und das Tiefe, das Klare und das Opake. Für den, der sich darauf einlässt, gibt es im Kino der Gegenwart kaum eine größere Lust als die, die seine Filme bereiten.

EKKEHARD KNÖRER

Die US-DVD hat keine Regionalcode-Bindung und ist nur in den USA, etwa bei www.amazon.com, für rund 25 $ erhältlich. Die deutsche DVD des nicht minder großartigen Vorgängers „Tropical Malady“ (siehe dvdesk vom 1. 6. 2006) gibt es nach wie vor bei www.salzgeber.de.