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Archiv-Artikel

Nachgeholte Gefühle

Die Tochter bleibt einem fremd, und auch sonst tut sich Joyce Carol Oates überraschend schwer, von Mutterliebe zu erzählen: „Du fehlst“

Mutterliebe: ohne Bedingung, unablässig und ohne Gnade. Ein klebriges und ein warmes Gefühl. Schützend und erstickend. Mütter sind Verbündete und Feinde, Vor- wie Zerrbild. Mit diesem (Töchtern zumindest im Ansatz durchaus bekannten) Gefühl beginnt Joyce Carol Oates’ Roman „Du fehlst“.

Nicole Eaton, eine 31-jährige Journalistin für die bunten Seiten einer amerikanischen Provinzzeitung, hat eine Frisur, die ihre Mutter scheußlich findet, einen anderweitig verheirateten Geliebten, den die gesamte Familie geradezu fürchtet, und eine Tendenz, sich betont – vielleicht schon fast verzweifelt – sexy zu kleiden, die das Gespräch der Nachbarn ihres Elternhauses dominiert und im besten Falle ihren kreuzlangweiligen Schwager erregen kann. Eine etwas abgenudelte Konstellation.

Die Erzählung beginnt mit einer Party am Muttertag, bei der Gwendolyn Eaton als eine durchschnittliche, überbehütende, schüchterne Mittelklassewitwe dargestellt wird. Nicole, genannt Nikki, gibt hier den klassischen Teenager: aufsässig, beleidigend, infantil. Auf dem Höhepunkt des erwartbaren Streits zwischen den beiden Frauen schreit Nikki ihre Mutter Gwen an: „Mutter, du bist nicht ich, und ich bin nicht du. Gott sei Dank.“

Das Buch endet ein Jahr später, ebenfalls am Muttertag; aus der braven, leicht nervenden Gwen ist eine Heilige geworden. Eine, die ihrer inzwischen geläuterten Tochter vor dem geistigen Auge erscheint und ihr „Nikki, der ist der Richtige“ ins Ohr flüstert, um sich dann endgültig zu verabschieden. Und Nikki hat nun keinen Grund mehr, Gott zu danken, denn es scheint, als habe sich ihr Ausspruch wie ein Fluch gegen sie gewandt: Sie hat sich tatsächlich in ihre Mutter verwandelt.

„Du fehlst“ verfolgt zwei im Grunde sehr interessante Ideen. Die eine ist eine Geschichte aus der amerikanischen Provinz: Eine karitative, religiöse 65-jährige Witwe wird von einem ihrer Schützlinge, einem drogensüchtigen Halbstarken, überfallen und ermordet. Der gewaltsame Tod, der ein Leben aus Kirchenkreistreffen, Kuchennachmittagen und Schwimmgruppen beendet, reißt eine Menge gut getünchter Fassaden im Umfeld ein. Das neugierige bis aufdringliche Mitleid alter Freunde, die Vermeidungsstrategien der Verwandten, die Skandalhoffnungen der lokalen Presse – all das hätte eine spannende Erzählung werden können.

Aber Oates kann sich nicht so recht für das Verbrechen in der Kleinstadt entscheiden. So konkurriert die Mordgeschichte mit der, die im Titel angedeutet wird: ein Heldenepos einer Provinz-Mom, aus dem schlechten Gewissen einer selbst fehlenden Tochter heraus verfasst. Der Versuch einer verspäteten Liebeserklärung.

Nicole Eaton, das ahnt der Leser schon im ersten Satz, hat das Gefühl, ihre Mutter enttäuscht zu haben. Als diese gewaltsam stirbt, versucht die Tochter den verlorenen Menschen zu ersetzen. Absurderweise ersetzt sie die Mutter durch sich selbst: Sie zieht aus ihrer Single-Stadtwohnung in das Einfamilienhaus der Eltern (der Vater ist bereits vor ein paar Jahren verstorben), sie trägt die altmodische Kleidung von Gwen, die irritierenderweise fast nur noch mit ihrem Cheerleadernamen „Federchen“ bezeichnet wird. Nicole Eaton besucht die Freundinnen der Verstorbenen und beginnt, Moms Rezepte nachzukochen. Auch diese hilflose Verwandlung einer jungen Frau in eine Tote hätte – für sich genommen – ein interessanter Roman werden können. Eine literarische Variante auf die Obsession von Norman Bates. Aber Oates scheint die Perversion ihrer Heldin fast gar nicht aufzufallen. So verpasst sie die Chance dieses Buches.

Zu der Unentschlossenheit der Handlungsstränge kommt ein merkwürdig konstruierter Stil. Neben viel zu vielen faden Dialogen enthält „Du fehlst“ eine ganze Liste bemühter Vergleichsphrasen, wie: „Trauer ist wie ein Handtuchspender in öffentlichen Toiletten. Wenn man sie mit zu viel anderen teilt, nutzt sie ab und wird schmutzig.“ So bleibt dem Leser diese Tochter mit all ihrer Verzweiflung und ihrer Hoffnung über fast 500 Seiten weg immer ein bisschen fremd.

Eine Liebeserklärung an die Mutterliebe wollte „Du fehlst“ werden. Trotz seiner Mängel ist zum Schluss dann dennoch ein ziemlich spannender Roman dabei herausgekommen. Das Buch hat Oates ihrer eigenen Mutter gewidmet, kurz nach deren Tod hatte sie es begonnen. Gerade weil sich Joyce Carol Oates so schwer tut mit einem intimen Porträt der ersten Beziehung, die jeder Mensch hat, zeigt „Du fehlst“, wie viel eine Mutter bedeuten kann – an Katastrophe und an Glück. JUDITH LUIG

Joyce Carol Oates: „Du fehlst“. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 489 Seiten, 23,60 Euro