hamburger szene
: Menschenkenntnis

Er trägt eine dunkelblaue Baseballcollegejacke, blonden, gestutzten Vollbart und eine schwarze Pudelmütze. In der Hand einen abgewetzten Pappbecher mit Kleingeld und zwei HVV-Tageskarten. Er nennt sich Grille und ruft den abweisenden Menschen an der S-Bahnstation zu: „Ham’se vielleicht ein bisschen Schmiergeld, Schwarzgeld, Kleingeld.“ Nebenbei versucht er, die Karten zu verkaufen.

Grille lächelt und ist ausgesprochen freundlich. Wäre er ein Vertreter an der Tür, würde ich ihm eine Tasse Kaffee anbieten. Eine Zigarette passt jetzt aber auch. Ich gebe ihm Tabak, Zigarettenblättchen und Eindrehfilter. „Ne du, ich brauch’ keine Filter. Ich rauch’ wie es sein muss!“

Grille zieht und hustet. Er sagt, dass das Rumstehen ein harter Job sei. Eigentlich sei er ja Gerüstbauer, aber ihm sei da ’ne Dummheit passiert. Hinter ihm, an der mit Fliesen verkleideten Wand lehnt ein mattsilberner Gehstock. Die Leute flüchten mit ihren Blicken regelrecht, wenn Grille wieder mit seiner Stimme ansetzt, um ein wenig Geld abzustauben. Sie müssen sich anstrengen, aber dann klappt es mit dem Übersehen.

„Hier draußen kriegst du Menschenkenntnis, wie sonst nirgendwo“, sagt er zwischen zwei Schlucken Bier. Es sei doch eine Schweinerei, dass die Entscheidungsträger überhaupt keine hätten. Er, Grille, sehe genau, wen man ansprechen sollte und wen nicht. Da spiele es keine Rolle, wie der angezogen sei. Einmal musste er eine Nacht in die Zelle, als ein Passant die Polizei gerufen und Grille als penetranten Störenfried angeschwärzt hatte. Schon deswegen müsse er sich auf seine Menschenkenntnis verlassen können, sagt er und drückt die Zigarette aus: „Sonst ginge das nicht gut aus.“THOMAS EWALD