Knallharte Erzählstränge

Finn-Ole Heinrich ist Mitte zwanzig und als Autor längst mehr als ein Geheimtipp in der Indie-Verlagsszene. Ein Porträt

VON FRANK SCHÄFER

Wir hatten ein Treffen auf der Leipziger Buchmesse verabredet. Die übersichtliche, an eine komfortable Telefonzelle gemahnende Koje des mairisch Verlags ist gut gefüllt. Neben den beiden Verlegern und zwei aushelfenden Freunden stehen im Fond ein freundlich grinsender, anscheinend gerade aufgestandener Finn-Ole Heinrich, mit jugendlichem Struwwelbart und Zauselhaar, und die externe Pressefrau Stefanie Ericke. Die beiden warten schon, und also drängele ich mich da jetzt auch noch hinein. Aber alles freut sich, Rippenpüffe und Schulterstöße werden lächelnd weggesteckt, die Familie nimmt mich herzlich auf. Die Harmonie hier wirkt durchaus authentisch, und die gute Laune ist ansteckend.

Das hat Gründe. Heinrichs Debüt, der Erzählungsband „Die Taschen voll Wasser“ (2005), läuft mittlerweile in der 7. Auflage, das sind unterm Strich 3.500 verkaufte Exemplare. Für einen Kleinverlag wie mairisch ist das ein Bestseller. Das Buch war zunächst ein Rezensionserfolg in der Offszene, in Stadtmagazinen, auf Internetportalen etc. Frau Ericke hatte auf ihr übliches Honorar verzichtet, weil sie die Geschichten so gut fand, dass sie Heinrich unbedingt vertreten wollte – auch das gibt es also noch! –, und von diesem Enthusiasmus ließen sich die Redakteure offenbar anstecken. Aber das Buch verkauft sich zwei Jahre später erstaunlicherweise immer noch kontinuierlich gut. „Das wird jetzt weiterempfohlen und verschenkt“, glaubt Heinrich. Und bei den vielen Lesungen, die er absolviere, gehe auch ganz ordentlich was weg.

Finn-Ole Heinrich ist Mitte zwanzig, und seine Sujets sind entsprechend. Es geht in seinen Geschichten um Identitätsfindungsprobleme – und da ist dann die Bulimie auch nicht weit –, um erdrückende Mutterliebe, um die Trennung der Eltern und immer wieder um Freundschaften, die durch Liebesbeziehungen gefährdet sind; ihn interessieren ganz offensichtlich Dreieckskonstellationen. Heinrich erzählt auf eine gute Art impressionistisch, beschreibt recht feinfühlig das Situative, Atmosphärische, wägt skrupulös die jeweiligen Gefühlslagen seiner meistens juvenilen Protagonisten ab, und man merkt den Geschichten positiv an, dass er hier vor allem den eigenen Erfahrungshorizont abschreitet. „Für mich ist das Schreiben und Filmemachen“, Heinrich studiert Film in Hannover und sitzt gerade an seiner Abschlussarbeit, „eine Möglichkeit, meine Ängste, Sorgen, Zweifel aufzuspüren. Immer auch in der Hoffnung, dass ich das alles nicht erleben muss, wenn ich es mir schon vorher vor Augen führe.“

Nur in der längsten Erzählung des Bandes, „Schwarze Schafe“, erweitert er die autobiografische Perspektive einmal, imaginiert er sich in den Kopf eines Straßenjungen im polnischen Katowice, der mit seinen beiden Freunden mehr schlecht als recht von Kohlediebstählen lebt, sich mit Aceton den Verstand wegschnüffelt und von Berlin träumt. Aber auch diesem Elendssoziotop zeigt er sich sprachlich gewachsen, plastisch skizziert er die alltägliche Schmuddeltristesse, die moralische Verkommenheit, die knallharten Überlebensstrategien. Alle Welt freut sich doch gerade so sehr über die Street-Credibility eines Clemens Meyer – Finn-Ole Heinrich muss sich hinter ihm keineswegs verstecken.

Überhaupt zeugen die Geschichten von einer enormen Stilsicherheit. Die typischen sprachlichen Outriertheiten und symbolistischen Zaunpfähle des Debüts fehlen hier fast ganz. „Ein Journalist hat mir mal erzählt“, sagt er, „ich würde immer hart an der Grenze zum Kitsch entlangschreiben, aber sie doch nicht überschreiten. Das gefällt mir eigentlich ganz gut.“

Das könnte man auch von seinem neuen Buch sagen. „Räuberhände“ ist ein fein gebauter, stilistisch einmal mehr souveräner Adoleszenzroman und erzählt von einer großen Jungen-, dann Männerfreundschaft. Janik, der Ich-Erzähler, hat ziemlich perfekte Pädagogeneltern, sein Freund Samuel hingegen kommt aus zerrütteten Verhältnissen. Er wächst ohne Vater auf, und seine Mutter verliert sich im Suff, verwahrlost, drückt sich mit Pennern herum. Schließlich wird er von Janiks Eltern quasiadoptiert. Janik wiederum ist affiziert von Samuels Rabenmutter, nicht zuletzt weil sie Dinge tut, für die man sie hassen kann, weil sie den Widerstand bietet, den ihm seine Mustereltern immer verweigert haben. Er schwankt zwischen Ekel und Fasziniertsein. Und dann kommt es an seinem zwanzigsten Geburtstag, nachdem er und Samuel sich mit ein paar mexikanischen Pilzen erfrischt haben, zur Katastrophe, die man hier wirklich nicht verraten darf, weil Heinrich dieses Geheimnis bis zur Mitte des Romans narrativ umschleicht und so ziemlich abgefeimt zur Spannungserzeugung nutzt. Die Freundschaft zerbricht beinahe daran, aber dann machen sich die beiden auf nach Istanbul, auf die Suche nach dem abwesenden Vater, einem türkischen Gastarbeiter, der in seine Heimat zurückkehren musste und den sich Samuel in seiner Fantasie zur Passions- und Heilsgestalt zurechtzimmert. Diese Reise endet mit einer weiteren Katastrophe. Janik fährt schließlich zurück nach Deutschland, und Samuel versucht es allein weiter, sie trennen sich und bewahren damit ihre Freundschaft.

Einmal mehr lässt Heinrich viel Raum für Stimmungen und emotionale Imponderabilien, verliert aber dennoch den Plot nicht aus den Augen. Wie er den auf drei Zeitebenen verteilt, in kurzen, hart aneinandergeschnittenen Szenen, ohne dass der Text an Übersichtlichkeit verliert, das beweist ein beachtliches kompositorisches Talent. Und spätestens hier bemerkt man deutliche Parallelen zum Film. „Ich habe mich beim Schreiben sehr an der Arbeitsweise beim Film orientiert. Ich habe alle Erzählstränge in Rohform runtergeschrieben, so wie man beim Film das Rohmaterial dreht, und mich danach an den Schneidetisch gesetzt und montiert. Ich war dann wirklich ‚im Schnitt‘ und habe es auch so genannt. Ich könnte ein großes Making-of machen, mit ganz vielen Outtakes. Viel Material, das unter den Schneidetisch gefallen ist.“

Ohnehin haben ihn Filme mehr „geprägt und beeindruckt“ als die Literatur. „Bis ich 17 war, habe ich überhaupt nicht gelesen, Filme hab ich aber gesehen. Natürlich macht das was mit einem.“ Dass sein Filmstudium sein Schreiben beeinflusst haben könnte, glaubt er jedoch nicht, zumal es ihm „an theoretischem und handwerklichem Wissen sehr, sehr wenig eingebracht“ hat. „Das Ganze war eher wie ein langes Arbeitsstipendium. Mir hat das super gefallen und viel gebracht, auch wenn ich mir manchmal wünsche, ich würde über mehr Handwerk und Wissen verfügen. Aber das ist auch nicht nur verkehrt. Es schützt mich davor, mich von dem Überangebot und allem schon Existenten einschüchtern und abhalten zu lassen.“ Jetzt muss er erst einmal los zur nächsten Lesung, die Literaturzeitschrift Edit hat ihn eingeladen. Aber wir verabreden uns für den Abend – auf der mairisch-Verlagsparty will er ein paar Kurzfilme zeigen und eine neue Erzählung vorstellen.

Das Café Cantona ist ziemlich gut besucht. Vor allem mit Studenten, Leuten in Heinrichs Altersklasse. Er begrüßt mich überrascht, als hätte er nicht wirklich damit gerechnet, dass ich komme. Er steht gerade hinter dem Tresen und hadert mit der Technik. Die gebrannten DVDs harmonieren nicht richtig mit dem hauseigenen Player, er muss sein Programm abspecken. Immerhin zwei Filme bringt er zum Laufen, einen etwas albernen Trickfilm, in dem viel gespuckt wird, und „Herr Possalla wirds schon richten“, eine schöne, moderat satirische Fake-Dokumentation über den Spielplatzbeauftragten Herrn Possalla, eine Mischung aus Simplicissimus und Blockwart, der seinen 1-Euro-Job ein bisschen zu ernst nimmt, weil er sonst nichts hat.

Heinrich wirbt zunächst nach allen Regeln der Kunst um Empathie für diesen kauzigen Verlierertyp – und hintertreibt dann immer wieder die Erwartung des Zuschauers, indem er blitzlichtartig die Abgründe dieses Charakters beleuchtet.

Dem gleichen Strukturprinzip gehorcht auch seine neue, dramaturgisch abgefeimte Erzählung „Machst du bitte mit, Henning“, die er anschließend vorträgt. Der naive Ich-Erzähler sitzt offenbar gegen seinen Willen in einem Heim für psychisch gestörte Kinder und widersetzt sich mit kleinen Boykottaktionen dem Heimbetrieb. Man soll zunächst an eine infantile Version von „Einer flog über das Kuckucksnest“ denken, aber nach und nach offenbart das arme Kind seine sadistischen Neigungen – und man bereut bald die Sympathien für den Protagonisten.

Nach der Lesung stellt sich ein entspannter, aufgeräumter Autor neben mir an die Theke, dem man ansieht, dass er mit dem derzeitigen Stand der Dinge zufrieden ist. Er hat einen Verlag, der ihn selbst für Indie-Verhältnisse außerordentlich gut betreut, und vor allem gefällt ihm sein jetziges Leben als Literaturzigeuner, der sich von Stipendium zu Stipendium hangelt, von Lesung zu Lesung reist. Gerade hat er ein Autorenstipendium in Lamspringe, Harz, beendet. Und jetzt zieht er gerade um nach Erfurt, um seine dortige Stadtschreiberstelle anzutreten. „Ein absoluter Glücksfall“, meint er grinsend, „dass gerade alles so nahtlos ineinander übergeht.“ Und schön zu sehen, dass der Betrieb auch mal Spaß machen kann.

Finn-Ole Heinrich: „Die Taschen voll Wasser. Erzählungen“. 134 Seiten, 9,90 Euro Ders.: „Räuberhände. Roman“. 208 Seiten, 14,90 Euro. Beide mairisch Verlag, Hamburg