: Die nackte Wahrheit
Monochrom, grob, stumpf? Vergesst es. Beton gibt es jetzt in Oliv und Braun und sogar transparent. Mal ist er samtig weich, mal spiegelglatt. Irgendwie sexy
VON MEIKE LAAF
Plötzlich ist es überall wieder grau. Clubs nisten sich in gigantomanischen Industriebrachen ein, Galerien und Bars schmücken sich mit nackten Wänden aus grauem Sichtbeton – und selbst für ihre privaten Lofts und Wohnungen lassen sich immer mehr Designbewusste für viel Geld exklusive Betonmöbel gießen.
Dabei ist es noch gar nicht lange her, da war Beton wirklich das Allerletzte. Ein ästhetischer Albtraum. Der Stoff, aus dem die Plattenbauten sind. Ein billiges, grobes Material, das man aus seiner Kindheit noch in lebhafter Erinnerung hatte – weil man sich an Kellerböden und Parkbänken die Knie und Hände daran aufgescheuert hat. Grau und trist, kalt und klotzig. Wer Stil hatte, versteckte den Billigbaustoff dezent hinter hübschen Verkleidungen.
Heute ziert Waschbeton die modernen Prachtbauten des Berliner Regierungsviertels – und schon ein einziger Quadratmeter Küchenplatte aus Beton kostet mehr als sechshundert Euro. Beton gilt heute als nüchtern statt klobig, sein Grau als reduziert statt trist. „Grau ist eine tolle Wohnfarbe“, findet etwa der Berliner Innenarchitekt Veit Quitenski. „Das bildet einen Kontrast zu diesen bürgerlich angeweißelten Stuckdecken und Holzböden.“ Der Berliner Betonmöbeldesigner Karl-Heinz Suppa vergleicht die Farbe Grau in der Innenarchitektur mit dem Schwarz in der Mode. „Grau ist im Kommen“, meint er, hebt bedeutungsvoll die grau melierten Augenbrauen – und stimmt dann ein Loblied auf die Geradlinigkeit und Nüchternheit des Betons an. Und sein Designerkollege Jan-Marc Kutscher von der Kölner Firma Werkform wird fast aufbrausend, wenn jemand Beton als trist grau bezeichnet. „Beton ist nicht monochrom, es gibt Farbschattierungen von Oliv bis Braun“, sagt er energisch und schwärmt von den einzigartigen Oberflächen, die bei jedem Betonguss anders aussehen.
Japans Stararchitekt Tadao Ando nannte Beton einst den „Marmor des 20. Jahrhunderts“. Seine Kollegin Zaha Hadid nennt ihn „sexy“ und „samtig“. Eigenschaften, die man dem Beton landläufig nicht zuschreibt – bis man erstmals selbst mit der Hand über eine Tischplatte aus speziellem Beton gestrichen hat. Glatt wie polierter Stein und überraschend scharfkantig fühlt die sich an. Woran das liegt? Ganz einfach, meint Michael Buchmann von beton.org, einer Homepage zur Vermarktung von Beton: Die Betontechnologie habe sich einfach ganz erheblich verbessert – und habe so dem Beton auch zu seiner neuen Popularität verholfen.
Neben groben Mischungen aus Zement, Wasser und Steinbrocken gibt es heute Hochleistungsbetone, denen das charakteristische Schwergewicht des Baustoffs fehlt. Solche, die wasserabweisend sind oder an denen sogar Schmutz abperlt. Oder sogar solche, die transparent sind, sodass man durch sie hindurch Licht und Schatten unterscheiden kann. „Das Material bietet Kunst- und Designschaffenden gute Möglichkeiten – weil man mit Beton genau das bauen kann, was man sich vorstellt“, erklärt Buchmann und zitiert den Slogan, mit dem die Industrie schon lange für ihren einst so biederen Baustoff wirbt: „Es kommt drauf an, was man draus macht.“
Eine Gestaltungsfreiheit, die Architekten, Designer und Künstler, die mit Beton arbeiten, genießen. Sie geraten ins Schwärmen, wenn sie über Beton sprechen. Sie loben seine Wandelbarkeit und die Individualität jedes Gusses. Anders als beim Stein, dem sie richtige Formen erst mühevoll abringen müssen, können sie den Beton direkt in die gewünschte Gestalt gießen. „Das ist so, als würdest du ein bisschen Gott spielen“, grinst Michael Villanueva-Schauer. Der gelernte Schreiner und Musiker entdeckte vor fünf Jahren aus künstlerischem Interesse seine Liebe zum Beton. Anders als ein Architekt experimentiert er lieber mit dem Stoff, als etwas am Computer zu entwerfen. „Aus einem Spieltrieb heraus – wie ein Kind im Sandkasten“, sagt er. Seit fünf Jahren gießt er Arbeitsplatten, Waschbecken oder fertigt Möbel. Er schätzt es, mit Beton massive, erdige Akzente in einem gemütlich-warmen Ambiente zu setzen. So wie in seiner bunten und liebevoll eingerichteten Wohnung, die, abgesehen von ein paar Betonstücken, aussieht wie der „wunderbaren Welt der Amelie“ entsprungen.
Ganz anders als der Stil, den Karl-Heinz Suppa bevorzugt. In seinem „Betonmöbel“-Geschäft in Berlin-Mitte ist alles sehr aufgeräumt, grau und eckig. Wenige Meter von dem Ort entfernt, wo einst eines der bekanntesten Betonschandwerke der Welt, die Berliner Mauer, stand, entwirft und verkauft er alles von Sitzbänken bis Fußbodenplatten aus Beton. „Der Beton hat sich seinen Spitzenplatz in Nüchternheit und Geradlinigkeit erobert“, meint er – und fügt hinzu, dass es gerade das sei, was künstlerisch empfängliche Menschen für Beton begeistert. „Man sagt, dass das jetzt eine Modeerscheinung ist. Ich glaube aber, dass das noch etwas länger bleibt.“
Für Beton sprechen aber noch andere Argumente. Seine Härte und Haltbarkeit etwa – egal ob auf dem Boden oder als viel genutzte Arbeitsplatte im Küchenbereich. „Beton hat den Vorteil, dass er mit Würde altern kann“, sagt der Kölner Designer Kutscher, der seit mehr als einem Jahrzehnt Betonmöbel entwirft. „Das Material steckt auch weg, wenn daran gearbeitet wird.“
„Es ist verrückt, dass viele Leute heute sagen, Beton sei der Baustoff der Zukunft – das ganze letzte Jahrhundert ist doch schon alles zubetoniert worden“, amüsiert sich der Berliner Betondesigner Michael Villanueva-Schauer. Tatsächlich: Während es Anfang des 20. Jahrhunderts noch als avantgardistisch galt, in einem aus Beton konstruierten Haus zu wohnen, findet sich heute kaum noch ein Bau, der ohne ihn fertiggestellt wurde. Erst mit der Erfindung des Stahlbetons Anfang der Zwanzigerjahre waren Architekten in der Lage, Hochhäuser zu konstruieren. Und auch der Sichtbeton trat seinen Siegeszug an – angefangen mit frühen architektonischen Ausnahmewerken wie Le Corbusiers Kathedrale von Ronchamp oder Oscar Niemeyers Regierungsgebäuden in Brasilia über die kurvig-geschwungenen Bauten von Zaha Hadid oder das Berliner Holocaustmahnmal bis hin zu Peter Zumthors Diözesanmuseum in Köln.
Doch während Sichtbeton in der Architektur inzwischen längst hoffähig geworden ist, befindet er sich im Interieur erst seit kurzem so richtig auf dem Vormarsch. Erst seit vier, fünf Jahren boomt bei den meisten Designern das Geschäft – und jedermanns Sache ist Beton in der Wohnung noch heute nicht. „Ich spreche mit meinem Geschäft hier bestimmt keine Hausfrauen an“, meint etwa Karl-Heinz Suppa. Auch Innenarchitekt Quitenski glaubt, dass Deutschland eigentlich noch zu bieder sei, um sich flächendeckend mit Beton einzurichten. Und warnt davor, allzu viel Beton außerhalb von Lofts und großen Locations in die Wohnung zu integrieren. „Sichtbeton braucht Platz. Der muss in große Räume. Sonst bekommt man schnell so eine Kelleroptik.“
MEIKE LAAF, Jahrgang 1981, ist Redakteurin von taz.de. Ihre poststudentische Einrichtung ist von Erbstücken dominiert