: „Mein Verhörbeamter fragte: Sie gehen bis zum Letzten?“
Sibylle Plogstedt saß nach dem „Prager Frühling“ in Isolationshaft. Sie wollte die Räterepublik, sie wurde Trotzkistin, sie gründete eine feministische Zeitschrift. Warum sie über die Alphamädchen von 2008 nur lachen kann
1968: Ist sie 23, Studentin der Sozialwissenschaften in Berlin und Mitglied des SDS. Geht wegen einer Seminararbeit nach Prag. Bleibt wegen Liebe und Revolution. Sitzt von 1969 bis 1971 im Gefängnis Ruzyně. Anklage: Unterstützung der Revolutionären Sozialistischen Partei, die den Widerstand gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen organisierte. Es folgt 1974 ein zweijähriges Berufsverbot (an der FU Berlin). 1976 Gründungsmitglied der feministischen Zeitschrift Courage. Die Emma-Konkurrenz geht 1984 in Konkurs. Heute: Autorin und freie Fernseh- und Radiojournalistin in Bonn. Geboren: 1945 in Berlin. Ausgewählte Publikationen: „Niemandstochter“, Piper 1994 (Autobiografie): „Im Netz der Gedichte. Gefangen in Prag nach 1968“, Chr. Links Verlag 2001. Die Courage im Internet unter: library.fes.de/courage/ Zum taz-Gespräch lud Plogstedt taz-Redakteurin Heide Oestreich in ihre Wohnung in Bonn. Es gab Bombay Mix als Snack – und einen Installateur, der die kaputte Heizung während des Gesprächs wieder in Gang setzte.
INTERVIEW HEIDE OESTREICH
taz: Frau Plogstedt, 1969 formierten sich Ihre SDS-Genossen in K-Gruppen, die teilweise wenig Probleme mit dem Stalinismus hatten. Sie dagegen waren in Prag im antistalinistischen Widerstand und wanderten dafür ins Gefängnis. Wie kam das?
Sibylle Plogstedt: Das war zuerst ein Zufall. Für mein Uni-Seminar über Industriesysteme in Ost und West recherchierte ich als Studentin in Prag über die Reformen des „Prager Frühlings“. Dabei wurde ich von der Intervention überrascht. Ich habe dann für die Studenten mit meinem VW-Käfer Materialien transportiert. Ganz Prag war ja eine einzige Druckerei geworden: Flugblätter, Plakate. Ich fuhr das Zeug über die Moldau durch die russischen Kontrollen zur Druckerei.
Sie hätten auch nach Hause fahren können, weil es zu gefährlich wurde.
Ich war abenteuerlustig. Und ich hatte Petr Uhl kennengelernt. Der war in Prag im Widerstand. Ich pendelte eine Weile zwischen Berlin und Prag. Zunächst waren meine Transportfahrten auch einfach: Die Russen machten immer nur vorn und hinten die Klappe auf. Dass da hinter dem Rücksitz beim Käfer noch ein Stauraum ist, wussten sie nicht. Ich hatte Glück. Das habe ich dann wohl etwas zu weit ausgereizt.
Sie sind 1969 an der Grenze abgefangen worden und für anderthalb Jahre im Gefängnis gelandet. Beim Lesen Ihres Buchs gewinnt man den Eindruck, Sie hätten trotz Ihres zarten Alters von 23 Jahren nie die Nerven verloren.
Wenn man im Gefängnis sitzt, kann man nichts anderes tun, als sich zu wappnen. Aber seitdem weiß ich, was Isolationshaft bedeutet. Ich war allein in einer Zelle mit einer psychisch kranken Frau namens Marta. Sie manipulierte mich. Sie erzählte, sie würde nachts aus der Zelle geholt. Ich versuchte die ganze Nacht wach zu bleiben, um das zu überprüfen, aber das schaffte ich nicht. Und der Schlafentzug machte mich natürlich mürbe.
War das beabsichtigt?
Das fragte ich mich auch. Es war bizarr: Marta schien oft nicht mehr zu wissen, worüber wir am Vortag geredet hatten, oder erzählte mir plötzlich das Gegenteil. Und sie sah dann auch anders aus. Ich fragte mich, ob es vielleicht zwei Frauen sind, die nachts ausgetauscht werden. Später habe ich entdeckt, dass sie nachts mein Trockenshampoo benutzte, deshalb wirkten die Haare am nächsten Tag wie frisch gewaschen. Aber damals fing ich an, an meinem Verstand zu zweifeln. Wurde sie gesteuert oder war sie nur verrückt? Es war beides. Später habe ich begriffen, dass genau das die psychische Folter ist.
Aber Sie waren doch schon verurteilt? Warum da noch die Folter?
Sie dachten, ich hätte nicht alles gesagt. Sie vermuteten, ich sei bei der CIA. Ich hätte mich zwar abschieben lassen können. Aber ich hätte dann nie wieder einreisen können und damit also meinen Freund Petr Uhl verlassen, der ebenfalls im Gefängnis saß. Irgendwann fragte mein Verhörbeamter: Wollen Sie wirklich bis zum Letzten gehen? Das Letzte, das war wahrscheinlich die Psychiatrie. Ich hatte schon aus Russland gehört, dass Oppositionelle da eingesperrt wurden. Da bin ich gegangen.
„Dreißig Jahre bleibt sie gefangen in ihren Erinnerungen“ steht auf dem Rücken Ihres Buchs „Im Netz der Gedichte“, das die Haftzeit beschreibt. Warum so lang?
Es gab bis zum Mauerfall keine Möglichkeit, zu überprüfen, was ich erlebt hatte. Und in der Linken hatte man auch kein Interesse an diesen Themen. Das Problem: Traumatisierungen, die man nicht verarbeitet, wachsen und wachsen. Und irgendwann lähmen sie einen. In einer Existenzkrise kam alles heraus: Ich hatte schon den Knast und dann ein Berufsverbot hinter mir, die Pleite der Courage, dann wurde der Vorwärts eingestellt. Da habe ich überlegt, ob ich überhaupt weiterleben will. Zum Glück habe ich eine sehr gute Therapeutin gefunden, die mich begleitet hat.
Die Linke hatte an diesem Thema kein Interesse, sagen Sie. Wie war denn die Intervention im SDS diskutiert worden?
Immerhin hatten wir eine Verurteilung der Intervention verabschiedet. Aber nur knapp. Die Maoisten haben gefunden, dass sich im „Prager Frühling“ die Bourgeoisie wieder installieren wollte, und fanden, die stalinistische Intervention sei notwendig. Ich wusste aber, dass das falsch war. Ich kannte die Leute ja, das war ein echter Volkswiderstand. Dagegen war das, was der SDS in Deutschland zustande brachte, ein Sandkastenspiel.
Götz Aly meint, die 68er hätten den Stalinismus verniedlicht. Stimmt das?
Das ist zu pauschal. Ich bin doch auch 68erin: Ich bin sicher, ich habe gegen den Stalinismus einiges mehr getan als er. Nur bestimmte Gruppen hatten die Augen verschlossen. Und die Intervention in Prag hat sie mehr Menschen wieder geöffnet, als Aly glaubt. 1969 wurde die DDR-finanzierte DKP gegründet. Die hätte gut im Teich des aufgelösten SDS fischen können. Dass das nur sehr begrenzt geklappt hat, lag an der Intervention in Prag.
Zu welcher Fraktion gehörten Sie?
Zur undogmatischen Linken. Die hat beide Systeme kritisiert. Sie war allerdings nur lokal organisierbar.
Wurden Sie deshalb später Trotzkistin in der Gruppe Internationaler Marxisten, GIM?
Die GIM war, als ich nach Deutschland zurückkam, die einzigen Gruppe, die sich für Osteuropa überhaupt interessierte und Unterstützung leistete, weil sie in der Vierten Internationalen vernetzt war. Sehr lange war ich da übrigens nicht.
Hatten Sie eine ökonomische Analyse oder waren Sie auch eher Kulturrevolutionärin?
Es ging zunächst nicht um Ökonomie, sondern um eine emotionale Rebellion gegen die Eltern. Heute denke ich, unser Antiamerikanismus etwa hat sich emotional aus dem Antiamerikanismus unserer faschistischen Eltern- und Großelterngeneration gespeist. Wir haben deren Gefühle wiederholt – so berechtigt die Kritik am Vietnamkrieg auch war. Unsere Härte und Unerbittlichkeit, die hat sich wohl aus älteren Quellen gespeist. Wir hätten die Amerikaner auch für die Befreiung Deutschlands loben müssen. So wie für die Beendigung des Kriegs in Bosnien.
Der Sozialismus war also nur eine Garnierung des Protests?
Wir suchten den Protest und fanden Marx. Wir suchten einen Feind und fanden den Kapitalismus. Und der Kapitalismus mit all seinen Auswüchsen war ja auch ein ausgewiesen guter Feind.
Sie haben in Prag die Revolutionäre Sozialistische Partei unterstützt.
Der Name war für uns paar Studenten ein klein bisschen größenwahnsinnig und eher Ausdruck unserer Ohnmacht. Daraufhin hat die tschechoslowakische Stasi uns leider noch ernster genommen.
Das Ziel war eine Räterepublik.
Damals in Prag gab es Arbeiterräte als einen Teil des Widerstands gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“. Man brauchte eine Struktur, und diese hat eine Weile funktioniert. Damals hielt ich die Räterepublik für eine gute Idee. Heute sehe ich das anders. Mit diesem starken Basisbezug ist man in unserer hochkomplexen Gesellschaft einfach nicht effektiv genug.
Ota Šik, der Vordenker des „Prager Frühlings“, hat später gesagt, seine Liberalisierungen der Wirtschaft hätten auf die lange Sicht zu einem Systemwechsel in Richtung Kapitalismus geführt. Glauben Sie das auch?
Das wurde ja aufgrund der Invasion nie ausprobiert. Der „Prager Frühling“ war einmalig, weil er von der ganzen Bevölkerung mitgetragen wurde. Wenn er sich weiterentwickelt hätte, hätte man langsam hinüberwachsen können, und es hätten sich wahrscheinlich mehr sozialistische Elemente erhalten. Die Leute waren damals nach 20 Jahren Sozialismus durchaus noch experimentierbereit. 1989 waren sie das nicht mehr, danach war alles vorbei.
Sie waren Trotzkistin. Die letzten dieser Art haben sich in die Linkspartei begeben. Wäre das eine Heimat für Sie?
Nein, überhaupt nicht. Wegen der IMs und der SED-Kader.
Das wirtschaftspolitische Programm lockt Sie nicht? Das ist ja sehr experimentell, auch über eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien kann diskutiert werden.
Mit Verlaub: Vieles kann privatwirtschaftlich besser organisiert werden. Es gibt nichts Starreres als die Planwirtschaft. Heute kommt es auf die Regulierung und die Kontrollen an. Der Staat braucht Interventionsmöglichkeiten, etwa da, wo es um Grundbedürfnisse geht oder um den Machtmissbrauch von Managern.
Kaum zurück aus dem stalinistischen Knast hat man Ihnen ein Berufsverbot aufgebrummt. Wieso?
Weil ich in der GIM war. Und ich hatte aufgrund meiner eigenen Gefängniserfahrung ein Buch geschrieben: „Wie man gegen Polizei und Justiz die Nerven behält“. Darin hatte ich auch Schulungsprotokolle der deutschen Polizei über Verhörmethoden zitiert. Das Offenlegen von Polizeimethoden war in der Zeit der Terroristenverfolgung nicht genehm.
Sie hatten keinen Job mehr. Und gingen von der GIM zur Frauenbewegung. Welch ein Umschwung!
Für die Frauen hatte ich mich 68 tatsächlich nicht interessiert. Aber in den Siebzigern demonstrierten sie gegen den Paragrafen 218. Damit hatte ich zwar persönlich nichts am Hut. Ich dachte, ich nehm ja die Pille. Kritik an der Pille war damals noch nicht verbreitet. Aber der 218 war ja vor allem ein politisches Thema. Als meine GIM-Genossen mich während meines Berufsverbots ziemlich hängen ließen und auch nicht gegen das Abtreibungsverbot demonstrieren wollten, sagten die Frauen zu mir: Komm doch zu uns!
Wer war: uns?
Das Frauenzentrum Hornstraße in Berlin. Allerdings war dort die Selbsterfahrung schon voll im Gang. Darauf konnte ich mich nicht einlassen. Die ganze Prag-Geschichte wäre wieder hoch gekommen. Aber es gab genug anderes zu tun. Wir brauchten ein Medium, eine Plattform. Also gründete ich mit Sabine Zurmühl und einer Gruppe von Frauen die Courage.
War das auch eine Abkehr von dem Versuch, die ganze Welt zu revolutionieren? Erst mal bei den privaten Beziehungen anfangen?
Ja und nein. Wir begriffen uns damals noch als Teil der Revolution. Es ging um die Reihenfolge. Warten wir brav, bis die Weltrevolution gesiegt hat? Wir haben gesagt, nö, darauf warten wir nicht. Die Themen der Frauen galten damals immer als privat. Von daher stammt der Satz: Das Private ist politisch.
Zur Gründung der Courage haben Sie später mal gesagt: „Die Kraft, die aus der Naivität kommt, kann grenzenlos sein“. Warum wollten Sie nicht professionell sein?
Nichtprofessionalität war damals ein Markenzeichen der alternativen Bewegungen. Als man uns sagte, wir bräuchten Startkapital, sagten wir schlicht: Wir haben aber keins. Wir machten ein Solifest mit der Nullnummer, und damit haben wir die Druckerei für die erste Nummer bezahlt, sodass wir an die Kioske kamen. Wir hatten unerwarteten Erfolg. Plötzlich waren wir die Gegenspielerin zur Emma, die sich ja sehr professionell gegründet hatte, mit Startkapital und Profijournalistinnen.
Im Gegensatz zur Arbeitsweise in der Emma wurde bei Ihnen alles mit allen diskutiert.
Ja, das hatte einen guten Grund. Wir hatten es mit so vielen Tabuthemen zu tun, dass einzelne Redakteurinnen sicher blockiert hätten. Ich hätte blockiert, wenn es um Gewalt gegen Frauen ging, ich hätte es einfach nicht geglaubt. Andere hätten beim Thema Vergewaltigung blockiert. Das wiederum kannte ich: Meine Mutter war von einem Russen vergewaltigt worden. Die Diskussion war extrem wichtig, damit man sehen konnte: Ja, das ist ein Thema. Und wir hatten das Prinzip: Immer wenn wir uns richtig streiten, dann muss diese Kontroverse ins Blatt.
An Emma hat man oft kritisiert, dass sie eine einheitliche Blattlinie verfolgt. War die Courage dagegen ein Hort der Liberalität?
Wir haben viele Artikel zugelassen, die nicht unserer Meinung entsprachen. Es kam dann aber auch vor, dass Redakteurinnen von Frauengruppen zur öffentlichen Diskussion zitiert wurden.
Gab es Kontroversen, die man in der Courage nicht führen konnte?
Am Schluss gab es das. Als Teile der Frauenbewegung sich in Richtung Spiritualität orientierten, haben einige von uns nicht gewollt. Vor allem ich nicht. Das haben wir nicht professionell gehandhabt, weil wir immer ein Teil der Bewegung waren. Wir hatten nie Distanz zu ihr.
„Wenn Autonomie zum Dogma wird“, hieß einer Ihrer letzten Texte in der Courage, bevor sie einging. Was das auch das Problem der Zeitschrift?
Vielleicht. Die Frauenbewegung hatte sich isoliert: Nur wenige kooperierten mit Gewerkschafts- oder Parteifrauen. Damit hat sie sich um ihr eigenes Wachstum gebracht. Und statt politische Bündnisse zu suchen, driftete die Bewegung immer weiter auseinander: auf der einen Seite Wellness, auf der anderen bewaffneter Kampf. Das konnte auch eine Zeitschrift wie die Courage nicht mehr zusammenbringen.
Wie sehen Sie die Isolierung der autonomen Frauen heute?
Damals hat der Staat auf unsere Forderungen erst spät reagiert. Es gab offiziell lange kein Gewaltproblem. Also blieb uns nur übrig, in Selbsthilfe Projekte zu gründen. Damit waren wir auch freier als die meisten damals. Aber wir hätten auch mit unseren GegnerInnen sprechen müssen. Wir brauchten wohl diese Feindbilder nach außen. Wären die aufgegeben worden, wäre vielleicht auch der eigene Zusammenhalt bedroht gewesen.
Deshalb hat man sich in Sachen Kinderbetreuung nicht an den Staat gewandt?
Nein, wenn es um Geld ging, war der Staat immer ein Ansprechpartner. Nur: Die Frauen wollten ja unabhängig von den Männern leben. Mütter, die mit diesen Männern Kinder hatten, galten für den radikal-lesbischen Flügel als Verräterinnen. Das lag auch daran, dass viele Wortführerinnen kinderlose Lesben waren.
Sie haben in Ihrem Buch „Frauenbetriebe“ solche Tabus beschrieben. Wie kommt es zu denen?
Jede Bewegung überspitzt ja die Themen und überlegt nicht immer, wer dabei falsch angegriffen und wer ausgeschlossen wird. Die Mütter fielen vielfach heraus. Und eine Unterstützung durch Männer erlaubten wir auch nur selten. Ich erschrak aber sehr, als ich eine der Courage-Frauen auf einer Demo gegen Vergewaltigung sah. Und sie rief mit: „Alle Männer sind Vergewaltiger“. Ui, das hat mir nicht gefallen. Ein anderes Tabu war Schönheit. Wenn alle Frauen gleich sein sollen, dann darf ja nicht eine durch Schönheit Vorteile haben. Wir waren irgendwie spartanisch: Eine reiche Frau hätten wir auch nicht in unserem Weltbild unterbringen können.
Armut, Keuschheit, da fehlt nur noch der Gehorsam, und wir haben ein Nonnenkloster beisammen.
Dazu wurde sexuell zu viel experimentiert. Und den Gehorsam gab es zum Glück nicht. Stattdessen jede Menge Streit. Leider.
Sie sind eine der wenigen Protagonistinnen, die die Frauenbewegung kritisch reflektiert. Wie kommt das?
Es ist bisher noch nicht einmal zur Dokumentation gekommen. 1968 etwa ist vergleichsweise gut dokumentiert und kann nun kontrovers diskutiert werden. Ich wollte die Diskussion mit meinem Buch „Frauenbetriebe“ vorantreiben. Daraus wurde schließlich eine kritische Geschichte der autonomen Frauenbewegung.
Wenn die Bewegung so wenig verarbeitet ist, dann muss man sich auch nicht wundern, wenn junge Frauen die traurigen Reste betrachten und sagen: mit denen lieber nicht, oder?
Nun, es gibt ja Projekte, die sich modernisiert haben und gut funktionieren. Die haben mit dem Nachwuchs auch keine Probleme. Schwierigkeiten haben die, die sich beklagen, dass ihre Schwestern nicht in den Frauenbuchladen kommen, sondern bei Amazon bestellen. Wenn der Gegner nicht mehr die anderen sind, sondern die eigene Klientel, dann haben die Projekte definitiv ein Problem.
Heute wird neuer Feminismus gefordert. Etwa von Thea Dorn. Wie gefällt Ihnen das?
Ich finde es gut. Auch die radikale Sprache von Thea Dorn gefällt mir.
Nicht nur Dorn kritisiert den „Jammerfeminismus“ Ihrer Generation.
Das war kein Jammerfeminismus, das war kraftvoller Feminismus, der mit vielen Tabus aufgeräumt hat. Der funktioniert nur heute nicht mehr. Man hat tatsächlich alles Negative sehr betont, um die Diskriminierungen und Verletzungen überhaupt erst einmal offenzulegen. Daraus ist eine Wut und eine Kraft entstanden. Heute kann man nicht mehr mit der alten Arie mobilisieren, dass Frauen „immer noch“ benachteiligt sind und „wieder nicht“ zum Zuge kamen et cetera. Diese Strategie ist völlig am Ende. Wir müssen unsere Haltung ändern.
Das hätte die Frauenbewegung doch auch schon früher mal erkennen können.
Es gab aber zunächst keinen Spielraum für ein anderes Verhalten. Es gab überhaupt keinen Raum. Die Jüngeren sind doch nur so selbstbewusst, weil wir immer gesagt haben: Frauen können alles, Frauen dürfen alles. Wir mussten uns dieses Denken überhaupt erst mal erkämpfen. Deshalb lache ich manchmal angesichts der jungen Alphamädchen: Die wirklichen Alphamädchen, das waren wir damals: Wir haben uns die Räume geschaffen, die wir brauchten.
Ihre Kolleginnen werfen den Alphamädchen vor allem Egofeminismus vor: Hauptsache, ich komme voran.
Blödsinn. Durch eine solche Phase muss der Feminismus jetzt gehen. Wir haben alles in Gruppen gemacht, uns in der Gruppe auch ein bisschen versteckt. Jetzt kommt eine Individuationsphase, in der Frauen eben nicht mehr machen, was die Gruppe sagt. Das halte ich für dringend nötig.
Ist aber unpolitischer. Thea Dorn würde wohl keine Quoten fordern.
Thea Dorn und ihresgleichen sind bereit, den ganzen Himmel und nicht nur die Hälfte davon zu übernehmen. Das ist doch das wirklich Feministische. Mit Quoten kann man zeigen, dass fähige Frauen da sind und sie langsam in die Machtzentren hineinschieben. Das hat bei den Grünen und der SPD gut funktioniert. Aber an die Spitze kommen Frauen nur als Einzelpersonen. Und dafür brauchen sie dieses individuelle Empowerment. Diese beiden Systeme müssen sich noch verschränken, das stimmt. Das ist dann halt der nächste Schritt.