berliner szenen 100 Jahre, 50 Euro

Der Bürgermeister

Die alte Dame aus dem zweiten Stock ist ganz begeistert. Morgen kommt der stellvertretende Bürgermeister von Pankow zu ihr, sie wird nämlich 100. Er bringt der Jubilarin einen Blumenstrauß sowie 50 Euro mit. Zuerst starre ich sie nur baff an. Was ist nun merkwürdiger? Dass sie 100 Jahre jung wird, dass sie dafür 50 Euro bekommt, dass sie sich darüber freut, oder dass sich in ihrer Wohnung circa zehn Katzen, 20 Hamster und 30 Wellensittiche samt Eigengeruch tummeln und sie nicht im Traum daran denkt, dass dieser Umstand den stellvertretenden Bürgermeister und den Fotografen des Bezirksblättchens stören könnte?

Schon öfter habe ich ihr die Tüten hochgetragen, bin jedoch immer wieder schnell ins Treppenhaus zurückgetaumelt, wenn sie mir ein Stück Kuchen anbot. Aber morgen ist anscheinend ihr großer Tag und deshalb lausche ich noch ein wenig, immerhin ist meine gute Tat für diesen Monat damit erledigt. „Früher …“ beginnt sie, und ich frage mich, ob man Sätze, die mit „früher“ beginnen, immer erst später, also eigentlich „zu spät“ sagen kann, womit sie meinem Verständnis von Zeit und Logik nicht mehr entsprechen. „Früher“, sagt sie also, „wusste ich immer, wenn wir Besuch bekamen. Dann hat die Mutter die Brotschneidemaschine eine Stufe dicker eingestellt!“

Sie lädt mich ein, morgen mal vorbeizuschauen, der Herr stellvertretende Bürgermeister werde sicherlich eine Weile bei ihr sein, und ich schlendere auf die Straße, wo sie mir die Nachricht vor den Kopf hauen, dass der – in meiner Erinnerung frühestens vor einer Woche geborene – Eisbär Knut heute seinen Anderthalbjährigen feiert. Da schwant mir, dass auch ich schon bald Besuch vom stellvertretenden Bürgermeister erwarten kann.

JURI STERNBURG