: Vereiniger der Völkerschar
Wechseljahr 2008 (12): Wie fühlt sich Amerika? Dagmar Herzog über die Verfasstheit einer Changing Nation
Die Behauptung, der Umgang mit dem Thema Hautfarbe sei die Wiederkehr des Verdrängten, wäre viel zu simpel. Er ist paradoxer. Amerikaner reden darüber eher wie in einem freudschen „Fort da“-Spiel. Ein Kind versteckt ein Spielzeug und holt es immer wieder zum Vorschein, um die entwicklungsnötige Trennung von der Mutter zu verarbeiten. Amerika hat offenbar Schwierigkeiten, sich von diesem Urkomplex Rasse zu lösen – einerseits immer noch Trauma, nicht zuletzt, weil so viele soziale Ungerechtigkeiten ungelöst bleiben, andererseits doch beruhigend, weil er Konflikte scheinbar erklärbar macht.
Einer von 100 im Knast
Am Tag nach der Pennsylvania-Wahl ging die New York Times endlich, wenn auch unvermittelt, auf ein signifikantes, Rasse-assoziiertes Thema ein: die astronomisch hohe Zahl der Gefängnisinsassen in USA. Einer von 100 Erwachsenen sitzt hinter Gittern – ein höherer Prozentsatz als irgendwo sonst auf dem Globus. In den USA leben weniger als 5 Prozent der Weltbevölkerung – aber fast ein Viertel der Inhaftierten.
Die Erklärungsansätze dafür sind vielseitig: all die Waffen im alltäglichen Umlauf, die eben auch bei Straftaten Tode verursachen; die Tatsache, dass Richter gewählt statt ernannt werden und deswegen gerne ihrem Publikum die Genugtuung des harschen Justizvollzugs bieten; schließlich die fehlgeleiteten Obsessionen des Antidrogenkriegs.
Fest steht: Wenn die gegenwärtige Entwicklung nicht gestoppt werden kann, wird eines von jedem dritten, heute geborenen schwarzen, männlichen Babys später ein Gefängnis von innen sehen.
Noch vor zwei Monaten galt das Thema Rasse in der US-amerikanischen Wahlkampfpolitik als demodé. Und die, die es als relevant für den Ausgang des Nominierungsprozesses der Demokraten benennen wollten, wurden als rückwärtsgewandt bezeichnet. Barack Obama wurde inszeniert als großer Vereiniger der mittlerweile so fröhlich vielfarbigen Völkerschar.
Dann kamen die engagierten Predigten zur schwarzen Befreiungstheologie seines Pastors – aber eben wiederum gefolgt von Obamas Rede, in der er deutliche Worte darüber fand, wie unprivilegiert sich die meisten US-Amerikaner trotz ihrer weißen Haut fühlten.
Und am Tag vor der Pennsylvania-Wahl mussten auch die eifrigsten auf Hautfarbe fixierten Reporter zugeben, dass der relevanteste Faktor im Demokratenkampf das Alter sei – je jünger die Wähler, desto eher für Barack Obama, je älter, desto mehr für Hillary Clinton.
Das „Weißen-Problem“
Nach Hillary Clintons zehnprozentigem Triumph in Pennsylvania jedoch wusste ein CNN-Experte in Bezug auf Obama plötzlich: „He’s got a white problem.“ (Er hat ein Weißen-Problem.)
Und der Fernsehsender ABC berichtete aufgeregt, einer von sechs weißen demokratischen Wählerinnen und Wählern hätte bei Befragungen angegeben, Rasse sei bei seiner Entscheidung ein Faktor gewesen. Nicht weniger wichtig: 50 Prozent dieser Demokraten gaben unumwunden an, im Herbst lieber für John McCain zu stimmen.
Falls Obama die Nominierung gewinnen sollte.
DAGMAR HERZOG, geboren 1961, Historikerin, forscht unter anderem zum Aufstieg der religiösen Rechten in den USA