: Wenn die Eltern Kinder bleiben
In „Die Unerzogenen“ von Pia Marais muss die Tochter erwachsener sein als ihre Mutter
Auf den ersten Blick ist die 14jährige Stevie die Unerzogene. Das Mädchen stielt, geht nicht zur Schule, ist aufsässig und unberechenbar. Aber schon sehr bald wird klar, dass sie im Vergleich mit ihren Eltern die Vernünftige und Verantwortungsvolle ist. Diese reisen als Hippies durch Europa, schmuggeln Drogen und sehen das Leben als eine einzige große Party. Da der Großvater der Mutter gestorben ist, sind sie aus Portugal nach Deutschland zurückgekommen. Zudem wird der Vater gerade aus dem Knast entlassen, und so ziehen sie mit einer Reihe von Freunden in die verlassene Villa der Großeltern, und Stevie muss sich wieder einem ganz neuen Umfeld anpassen. Das Chaos ist in dieser Gemeinschaft der Normalzustand, und so kommt es unter den „Erwachsenen“ ständig zu großen Dramen, in denen es um die Polizei, Geld, Eifersucht und Alkohol geht. Andererseits sind sie inzwischen so abgebrüht, dass nichts von all dem sie wirklich noch erschüttern könnte. Aber Zeit und Energie, sich um das Kind zu kümmern, bleibt nicht mehr, und so ist Stevie ganz auf sich alleine gestellt. Den Gleichaltrigen im großbürgerlichen Villenviertel erzählt sie, sie sei die Tochter einer Diplomatenfamilie, und wenn sie auf die gestohlenen Familienfotos der Nachbarn die Köpfe ihrer eigenen Eltern klebt, träumt sie selber sich auch in diese Wunschfantasie hinein. Anders als die meisten Gleichaltrigen will sie unbedingt in die Schule, und in einer Filmszene taucht sie plötzlich in einer Klasse auf und muss vom Lehrer förmlich wieder herausgezerrt werden. Das Mädchen leidet an der völligen Entgrenzung, und das führt zu einer Situation, in der sie versucht, einen der Männer aus der Hippiekommune zu verführen und es dann als Zurückweisung missversteht, wenn dieser darauf mit der einzigen angemessen elterlichen Reaktion des ganzen Films antwortet.
Pia Marais ist selber als Kind von Hippies aufgewachsen, und so basiert der Film auf ihren eigenen Erfahrungen. Wohl deshalb ist er so rigoros aus der Perspektive des Mädchens erzählt. Und auch die etwas gewöhnungsbedürftige Dramaturgie lässt sich so erklären. Die Regisseurin spricht von ihrer eigenen „Erfahrung eines überbordenden Chaos“ und dem entspricht stilistisch die fragmentarische Erzählweise des Films. So springt er ständig mitten in die Situation hinein, ohne deutlich zumachen, wo man sich befindet und wie die Beziehungen der Handelnden untereinander sind. Es werden auch nie die Folgen der gezeigten Handlung direkt gezeigt. Ob der Vater verhaftet wird oder die Tochter über 2000 Euro stiehlt - der Film springt jeweils abrupt zur nächsten Situation, die wieder in eine Krise mündet, ohne dass es jeweils zu einem Abschluss bei einem der vielen Konflikte gekommen wäre. So wird diese ständig hochdramatische Lebensweise entdramatisiert, das Abenteuer wird zum Normalzustand - ganz ähnlich wie Stevie es erleben muss. Deren Rebellion stößt ständig ins Leere, und bei einigen Szenen ist es kaum zu ertragen, wie brutal das Mädchen emotionell vernachlässigt wird. Der mit Preisen in Rotterdam, Buenos Aires, Durban und Las Palmas prämierte Film wirkt auch deswegen so eindrucksvoll, weil das Ensemble der Schauspieler absolut glaubwürdig wirkt. Abgesehen von Birol Ünel in der Rolle des Vaters, der als Hauptdarsteller in Fatih Akins „Gegen die Wand“bekannt wurde, sieht man nur neue, unbekannte Gesichter. Als Stevie wirkt Ceci Chuh ähnlich authentisch und berührend wie Charlotte Gainsbourg in „Die kleine Diebin“ , der schon 1988 eine ähnliche Geschichte erzählte.
Wilfried Hippen