: Wenn das Waldhorn wieder wogt
Komponistenprominenz an der Weser: Krzysztof Penderecki hat ein neues Werk verfasst, und das auch noch in Bremer Auftrag. Die von ihm selbst uraufgeführte „Winterreise“ weist allerdings eher maritime Eigenschaften auf: gleichförmigen Wellenschlag
Woran erkennt man, dass man einer Uraufführung beiwohnt? Daran, dass die Dame auf dem Nebensitz, kaum sind die ersten, noch sehr leisen Töne einer nicht von Schubert stammenden „Winterreise“ zu vernehmen, aufgeregt in der Handtasche kramt. Wo ist denn nun der Fotoapparat? Ein in diesen Sekunden die Akustik der Welt erblickender Krzysztof Penderecki, noch dazu mit dem Maestro selbst am Pult: Das muss auch optisch festgehalten werden.
Uraufführungen finden in Bremen nun mal nicht täglich statt. Vor 140 Jahren, jaja, da wurde Brahms „Deutsches Requiem“ im Bremer Dom aus der Taufe gehoben, zumindest zu zwei Sechsteln (die ersten drei Sätze waren schon in Wien gespielt worden, der letzte kam erst in Leipzig dazu). Jetzt also sogar das vollständige Werk eines Mannes, der zu den wichtigsten europäischen Komponisten der Gegenwart zählt. Zu den populärsten gehört Penderecki ohnehin, unter anderem hat er Stücke für „Shining“, „The Exorzist“ und David Lynchs „Inland Empire“ beigesteuert. Wobei, wohlgemerkt, erst die Musik und dann die Filme da waren.
„Winterreise“ beginnt mit einem mehrtaktigen markanten Grummeln aus den Tiefen des Orchesters. Die Bassisten haben ihre dickste Saite bis zum Subcontra-„b“ heruntergestimmt, dazu das Tremolieren der großen Trommel – jetzt aber kommt das Horn. Schließlich ist „Winterreise“ Pendereckis erstes Solowerk für einen Blechbläser, mit Radovan Vlatković ist dafür ein profilierter Uraufführer engagiert worden. „Es macht mir Spaß, etwas zu schreiben, das man nur mit Mühe spielen kann“, hatte Penderecki vor dem Konzert mit sichtlichem Vergnügen zu Protokoll gegeben. Der Hornist tut ihm den Gefallen, zumindest zu Anfang über diese und jene Stelle ein wenig zu stolpern – nicht jeder mehrdeutige Ton ist tatsächlich für Flatterlippe komponiert.
Pendereckis „Winterreise“ klingt wie eine Ode an das Meer. Nicht, dass die hiesige Philharmonische Gesellschaft als Auftraggeberin irgendwelche lokalpatriotischen Vorgaben gemacht hätte – aber der musikalischen Gesamtgestalt des Werkes wohnt tatsächlich etwas sehr Wogendes inne. Auch eine gewisse Gleichförmigkeit: Die Palette des musikalischen Materials scheint in den ersten Minuten bereits ausgebreitet, ebenso die Rollenverteilung. Vlatković gibt ein eher ruhiges Thema vor, das Orchester steigt ein, steigert die Emphase – oft viel zu schnell, um organisch entwickelt zu wirken –, woraufhin sich der Solist nun ebenfalls in tonalen Kaskaden ereifert.
Die Regelmäßigkeit der orchestralen Aufregung mischt sich mit der zuverlässig eintretenden Wiederberuhigung zu einer wellenförmigen Figur, die durchaus interessant instrumentiert ist – aber nur selten überrascht. Penderecki ist ein Komponist der Horizontalen, der sein Heil eher in linearen Verläufen als in harschen Harmonien sucht.
Nebenan muss jetzt erstmal das Handy kontrolliert werden. Besser ausschalten? Na, hat ja auch bisher nicht geklingelt. Und wenn die Freundin doch noch anruft, ist sie eben live dabei. Dafür müsste sie sich allerdings beeilen: Mit knapp 25 Minuten ist „Winterreise“ nicht eben ein abendfüllendes Programm, die Bremer Philharmoniker haben es deswegen mit dem Adagietto aus Pendereckis „Paradise Lost“ und Dvořáks achter Symphonie angereichert. Gerade runzelt die Konzertmeisterin die Stirn: Das Orchester, das heute eigentlich eher auf Sicherheit spielt, ist über ein Tutti gestrauchelt, aber schon wieder auf den Beinen. Die Noten hat es erst seit wenigen Tagen, Penderecki pflegt bis zur letzten Minute noch Änderungen vorzunehmen.
„Paradise Lost“ stammt in seiner ursprünglichen Fassung aus Pendereckis romantischer Phase in den 80ern, die heute mehr denn je nach einer gewissen Gefälligkeit klingt. Pendereckis wilde Avantgarde-Jahre liegen weitere zwei Jahrzehnte zurück, und wirklich viel scheint davon nicht geblieben zu sein.
„Man kann ja keine permanente Revolution betreiben“, sagt er beim eigens einberufenen Rathaus-Empfang. Der Erfolg gibt ihm Recht, von Kindesbeinen an: Als Fünfjähriger schenkte er seiner Oma eine Polonäse zum Geburtstag, von der vor allem der Großvater begeistert war. Dessen nachhaltige Förderung ist seither von vielen fortgesetzt worden. Die „Winterreise“ wird demnächst in Tokio, Warschau, Bilbao und Berlin zu hören sein. HENNING BLEYL